Foucault souverän gewendet

Etwa 72.000 Menschen sind zur Zeit in deutschen Justizvollzugsanstalten inhaftiert. Die Bilder, die vom „Knastalltag“ existieren, changieren irgendwo zwischen den Stereotypen von „Schwerverbrechern in Luxuszellen“ oder „armen Schweinen, denen nicht anders geholfen werden kann“. Darüber, wie die Realität dieser mehreren Zehntausend Menschen tatsächlich aussieht, ist wenig bekannt. Die „Innen- und Außenansichten einsperrender Institutionen“ wie Gefängnis eine von ihnen ist, müssen unter anderem aus diesem Grund wieder mehr auf die Agenda, befand die Initiative baul_cken aus Hannover. Seit über drei Jahren beschäftigt sich die Gruppe, die gerade den Band abrisse herausgegeben hat, mit der Notwendigkeit einer generellen Auseinandersetzung mit Knast an sich. Was vor 30, 40 Jahren noch selbstverständlich im radikaleren Diskurs war, habe sich, so die Autor_innen, schleichend aus dem linken Themenspektrum entfernt, beziehungsweise den Wandel zur bürgerlichen Position oder auch zur Rückzugsperspektive vollzogen.

Als unter anderem Michel Foucault vor fast 40 Jahren in Frankreich die Gruppe GIP, die Groupe d`information sur les prisons, gründete, war eine der ersten Maßnahmen, mithilfe von Familienmitgliedern von Inhaftierten, Fragebögen in die Haftanstalten zu schmuggeln, um anschließend über die Lebensbedingungen und vor allem die „Untolerierbarkeiten“ in den Knästen berichten zu können. baul_cken hat diese Methode aufgegriffen und gemeinsam mit einem Gefangenen Fragebögen entworfen, allerdings nicht um die Menschen „drinnen“ zu befragen, sondern die Menschen „draußen“ – für die Menschen „drinnen“, so dass diese zum Beispiel etwas darüber erfahren können, was die Menschen „draußen“ so über sie denken. Was hier angenehm nüchtern als „Gemeinschaftsprojekt“ beschrieben wird, trägt dem Gesamteindruck Rechnung, dass es abrisse gelingt, über den Zustand von Solidaritätsbekundungen hinauszugelangen und eine souveräne Wendung in der Komplexität des Feldes zu vollziehen – hin zu einer kurzen, aber genauen Analyse von Akteur_innen, Interessen und Strategien, aber auch von Aspekten wie Geschlecht und Widerständigkeiten.
abrisse sind eine Zusammenstellung kluger Überlegungen und historischer Einordnungen inklusive retrospektiver Neubewertungen von Versuchen, mit denen sich Knast, Theorien des Ein- und Ausschlusses und einer Kritik daran genähert werden kann. Besagtes Projekt von Michel Foucault oder auch die Beschäftigungen Gilles Deleuzes werden dafür genauso hinzugezogen wie Interviews mit Anwält_innen oder eine Einschätzung des Verlaufs der Diskussion um die sogenannte Sicherungsverwahrung, die abzuschaffen sich deutsche Justizminister_innen wehrten – entgegen dem Verbot des Europäischen Menschengerichtshofs.
Ob nun die eigene Erfahrung oder Nachdenken über „drinnen“ und „draussen“ ausschlaggebend für ein Interesse an Knast ist, der schmale Band sei allen empfohlen, denen der eine oder andere Laut von sich schließenden Türen quer durch den Kopf hallt.

abrisse. innen- und außenansichten einsperrender institutionen
, baul_cken, edition assemblage, 128 Seiten, 12.80 Euro

Spread the history

Wer sind Harriet Tubman, Louise Michel, Sylvia Rivera? Und wer sind die anderen 27 Frauen, die das Queen of the Neighbourhood Collective aus Aotearoa/Neuseeland biografiert und als Schablonen in einem Buch versammelt hat? Sie sind (oder waren) Aktivistinnen, Anarchistinnen, Freiheitskämpferinnen und Feministinnen – oder, so der Titel des Buches: Revolutionäre Frauen. Neben den „großen Männern der Geschichte“ fehlen die revolutionären Ikonen der Frauen, stellten die Macher_innen fest und beschlossen, dass zumindest diese 30 nicht mehr länger auf die Art von Auszeichnung warten sollen müssen. Aus diesem Grund werden sie direkt im Stil des berühmten Che Guevara Porträts präsentiert, wie es seit Jahrzehnten erhaben von T-Shirts, Flaggen, Aufklebern aus eine revolutionäre Vision anvisiert: Als auf die Konturen reduzierte Schablonen, die direkt als Sprühvorlagen verwendet werden, wenn es nach den Autor_innen geht.
Denn etwa so hat es auch angefangen. Revolutionäre Frauen war ein feministisches Street Art Projekt, dass eine Lücke in der Geschichtsschreibung und in der öffentlichen Wahrnehmung füllen wollte. Dann wurde aus der Porträt-Stencil-Galerie ein Buch. Der kleine Band macht sich und seinen Leser_innen nichts vor: Das meiste, was es über die Frauen, die stellvertretend für viele andere stehen, zu sagen gäbe, müsste noch geschrieben – und auch noch gelesen – werden. Die Link- und Lesetips, die zu jeder der Porträtierten nachzuschlagen sind, lässt Revolutionäre Frauen nur kurz als eine Sammlung von Lexikoneinträgen mit einfacher Bebilderung erscheinen. Recht schnell wird das Buch zu einem liebevollen Aufruf – zum Sich-auf-die-Suche-machen nach den Geschichten, die noch nicht oder nur sehr selten erzählt wurden. Weil genau das auch Spaß machen kann, steht darüber nicht in schweren Blockbuchstaben geschrieben: „kollektiver feministischer Bewusstwerdungsprozess“.
Stattdessen kann sich jede_r selbst die individuelle Farbmischung wählen und je nach Bedarf mit Anerkennung, Sichtbarkeit, Selbstbewusstsein, Utopien oder Visionen anrühren. Und dann ab und ordentlich an den Festen der männlichen Geschichtsschreibung gerüttelt! So ist zumindest gegenüber dem immergleichen Che erstmal gehörig für Abwechslung gesorgt. Ob der Ikonisierungs-Prozess aber auch andersherum – vom Bild zum Teil der Geschichte – funktioniert, wird sich zeigen.

Revolutionäre Frauen. Biografien und Stencils.
Queen of the Neighbourhood Collective, edition assemblage, 128 Seiten, 30 Abb., 12,80 Euro

geschrieben für drift