Bewaffnung und Gelassenheit

Artikel auf antifainfoblatt.de vom 30.7.2014.

von Johannes Spohr

Die Aussagen und Einschätzungen über die Situation der Jüdischen Bevölkerung in der Ukraine seit den Protesten auf dem Maidan könnten unterschiedlicher kaum sein.

Als Moshe Reuven Azman, Rabbiner einer jüdischen Gemeinde in Kiew, im Februar laut der israelischen Zeitung Ha’aretz die Mitglieder seiner Gemeinde dazu aufrief, die Stadt und wenn möglich auch das Land zu verlassen, entstand international ein Lauffeuer in den Medien, das einen besorgniserregenden Eindruck hinterließ.

Im März 2014 meldete sich Azman auf einer Pressekonferenz erneut zu Wort und wehrte sich entschieden gegen die Ansicht, Faschismus und Antisemitismus seien in der Ukraine auf dem Vormarsch. Er habe mit Rabbinern vieler Gemeinden gesprochen, von antisemitischen Übergriffen sei dabei nicht berichtet worden. Auch über die Herkunft eines antisemitischen Flugblattes, das im Osten des Landes verteilt wurde, kursierten unterschiedliche Vermutungen. Juden wurden darauf dazu aufgerufen, sich registrieren zu lassen. Im russischen Fernsehen tauchten Berichte über die jüdischen Vorfahren von Julia Timoschenko, Petro Poroschenko und Arseni Jazenjuk auf.

Zum ersten Mal in der Geschichte ist der gewählte Präsident der Ukraine jüdisch.“ – auf der Facebook-Seite der Jüdischen Selbstverteidigungsgruppe, die momentan international von sich reden macht, gehört dieser Kommentar, gepostet im Anschluss an den Wahlgewinn des amtierenden Präsidenten Pjotr Poroschenkos, zu den wenigen, die sich nicht um Waffen und sonstige Ausrüstung drehen.

Poroschenkos Mutter ist Jüdin, er selbst der ukrainisch-orthodoxen Kirche zugehörig.

Tzvi Arieli ist einer derjenigen, die den Jüdischen Selbstschutz vor kurzem ins Leben gerufen haben. Grundsätzlich sei die Lage der Jüdinnen und Juden in der Ukraine nicht anders als überall auf der Welt, sie habe sich seit der Unabhängigkeit sogar immens verbessert. Allerdings hätten sich Übergriffe in den letzten Monaten gehäuft, so Arieli: „Vorher gab es nur alle ein bis drei Jahre mal einen Angriff auf einen Juden mit Kippa, seit Februar gibt es jede Woche Meldungen darüber. Außerdem sind die Übergriffe gut organisiert und gezielt. Manchen wurde vor der Synagoge aufgelauert, andere mit dem Auto verfolgt.“ Daher geht seine Gruppe nun über eine Facebookgruppe an die Öffentlichkeit, sammelt Geld für Waffen und trainiert regelmäßig in kleinen Einheiten für den Ernstfall. Die unübersichtliche Situation könnte dazu führen, dass die Angriffe sich intensivierten und schnell gehandelt werden müsse, so Arieli. Zwar sieht er einen Zusammenhang mit den Protesten auf dem Maidan, der Antisemitismus sei den Protesten jedoch nicht immanent. Vielmehr würden die Jüdinnen und Juden von verschiedenen Seiten instrumentalisiert: „Es wird behauptet, die Maidan-Bewegung sei faschistisch, sie soll diskreditiert werden. Unter den jüngeren jüdischen Menschen in Kiew jedoch sind sicherlich 90 Prozent für den Maidan.“ Probleme bereite ihm weder der Rechte Sektor, noch der historische Bezug auf die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN / UPA), der keinesfalls auf deren Antisemitismus, sondern auf den Kampf gegen Russland gerichtet sei. Gute Beziehungen unterhält die Selbstschutzgruppe auch zur neuen Regierung, die ihre Bewaffnung billigt und dabei hilft, dafür benötigte Lizenzen zu erhalten. Zugute komme ihnen dabei, so Arieli, dass die Ukraine im Sinne der Öffnung Richtung EU beweisen wolle, dass es entgegen der Propaganda aus Russland einen guten Umgang mit Minderheiten gebe.

Anatoli Podolsky, Direktor des Ukrainischen Zentrums für Holocaust Studien und Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Kiew, bestätigt, es gäbe einen konstanten Antisemitismus in der Ukraine, ebenso wie Übergriffe. Doch diese hielten sich auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau, das habe sich mit der Maidan-Bewegung keinesfalls geändert. Jedes Jahr würden einige wenige Fälle auf jüdische Einrichtungen oder Menschen bekannt. „Gerüchte über einen wachsenden Antisemitismus werden aus dem Umfeld des ehemaligen Janukowitsch-Regimes gestreut“, so  Podolsky. Zusammen mit vielen anderen unterzeichnete Podolsky einen offenen Brief der Assoziation der Jüdischen Gemeinden und Organisationen der Ukraine (VAAD) an Wladimir Putin, in dem den Schreckensmeldungen über den Umgang mit Minderheiten in der Ukraine widersprochen wird. Daher sieht er auch keine Dringlichkeit für Selbstschutzeinheiten wie die Arielis. Wie viele Jüdinnen und Juden habe er sich selbstverständlich an den Protesten beteiligt und sich damit für Freiheit und gegen Korruption eingesetzt.

Beunruhigt sei man in der Ukraine vielmehr über die allgemeine Situation der Menschenrechte. Das Interview gibt Podolsky aus Brüssel, wo er aus Anlass der tödlichen Schüsse im Jüdischen Museum über die Situation des Antisemitismus in der Ukraine spricht. Ein Ausmaß wie dort, in Ungarn, Frankreich, Polen oder Deutschland sei in der Ukraine nicht zu verzeichnen. Er bemängelt jedoch, dass in der Ukraine viele Übergriffe, die nicht physischer Art seien, nicht in die offiziellen Statistiken eingingen.

In Winnyzja, knapp vier Autostunden südwestlich von Kiew, erscheint die Stimmung gelassener als im hektischen Kiew. Die Türen des Jüdischen Gemeindezentrums, in der sich auch die örtliche Synagoge befindet, steht offen, jeder kann herein kommen. Isaak Novoseletskiy, Vorsitzender der heute rund 700 Mitglieder umfassenden Gemeinde, ist das wichtig: „Waren Sie schon mal in Israel? Dort ist es auch so – alle Menschen kommen ins Büro, treffen sich und reden miteinander und durcheinander.“

Das Gebäude der ehemaligen Synagoge wurde der 1887 gegründeten Gemeinde 1992 zurückgegeben, seitdem findet dort wieder religiöses Leben statt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion bereits 19.000 Jüdinnen und Juden aus der Stadt Winnyzja ausgewandert. Die schon etwas älteren Reste von Farbbeuteln an der Fassade empfindet Novoseletskiy nicht als Bedrohung, die seien auch anderswo aufgetaucht. In nur hundert Meter Luftlinie von hier befindet sich ein kleiner Ableger des Euro-Maidan, auf dem in diesen Tagen unter anderem der Rechte Sektor und die rechte Swoboda-Partei ihren Wahlkampf betreiben.

Den beunruhigenden Meldungen über die Lage der jüdischen Bevölkerung seit den Maidan-Protesten widerspricht Novoseletskiy vehement. Viele Jüdinnen und Juden hätten sich aktiv an den Protesten beteiligt und öffentlich in Erscheinung getreten: „Juden sehen sich häufig als Teil der Ukraine, gerade deshalb haben sie sich eingebracht. Wo also liegt das Problem?“, fragt Novoseletskiy gelassen. Er bestätigt, es habe eine jüdische Hundertschaft unter den Selbstverteidigungseinheiten des Maidan gegeben. Ihre Mitglieder motivierte der bekannt gewordene Antisemitismus in den mittlerweile aufgelösten Berkut-Spezialeinheiten zusätzlich zum Straßenkampf. Deren Profil bei „Facebook“ war gespickt mit antisemitischen Fotomontagen.

Zusammen mit seiner Frau Faina Winokurowa, Historikerin und stellvertretende Direktorin des Regionalarchivs, setzt sich der Vorsitzende für die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus ein. Aus über tausend in der Region gesammelten Zeitzeugeninterviews, für die Frau Winokurowa seit 20 Jahren recherchiert hat, sind inzwischen mehrere Bücher und Filme entstanden. Momentan veröffentlicht sie einen Zweiten Band mit kaum bekannten Dokumenten über Jüdinnen und Juden in Winnyzja während des Zweiten Weltkrieges sowie das Buch „Orte der Trauer“, in dem es um die Orte der Massenerschießungen durch die Deutschen geht. Die Erinnerung an die Vernichtung wach zu halten empfindet das Ehepaar als zentrale Aufgabe: „Das Gedenken soll leben“, findet Winokurowa, und Isaak Novoseletskiy pflichtet ihr bei.