See und Sehnsucht

Auf jedem anderen Schiff ist die Robbenjagd ein Fest für die Matrosen – aber die Ghost ist ein Höllenschiff schlimmster Art: Macht ist Recht, Schwäche ist Unrecht. Die Großen fressen die Kleinen, um sich die Kraft zur Bewegung zu bewahren. Sie bewegen sich, um zu essen und essen, um sich weiter bewegen zu können. Welchen Wert hat da das Leben?“

Eine Zwangsgemeinschaft unter den harten Bedingungen auf offener See, weit weg von Familie, Freunden und Gesellschaft: 10 Gefangene führen in der JVA Plötzensee bis zum 6. Dezember „Der Seewolf. Einmal im Leben“ frei nach Jack London auf. Moderne und poppige Elemente haben Einzug in das 70-minütige Stück gefunden: immer wieder Licht und laute Musik, Videos und Bewegung. Es wird gelacht, und doch geht es hier grundlegend vor allem um Sehnsucht, um nicht erreichbare Wünsche, um den Mangel, der sowohl dem „Höllenschiff“ wie auch dem Knast immanent ist. Das bestätigt einer der Schauspieler im anschließenden Gespräch. Es ginge um all das, was einem im Knast verwehrt würde. Die entsprechenden Elemente haben die Gefangenen beigesteuert, und so ist der London-Text immer wieder abgeändert und erweitert worden. So zum Beispiel, wenn es um schon lang nicht mehr geschriebene Briefe geht, um die körperliche Nähe zu vertrauten Menschen oder die Entfremdung von den eigenen Kindern. „Das ist kaum vorstellbar, wie es das für uns ist“, sagt ein weiterer Inhaftierter. Die Proben und Aufführungen lassen den Knast vergessen. Sie stellen gleichzeitig eine immense Anstrengung dar, weil fast alle Teilnehmenden bis zur Probe arbeiten.

Das Regieteam, bestehend aus Hanni-Isabell Barfuss und Adrian Figueroa, hat sich bewusst dagegen entschieden, professionelle Schauspieler_innen von „draußen“ einzubinden. Sie wollten nur mit „der Mannschaft“ spielen. Dem Theater eigentlich fremde Menschen dafür zu begeistern sei eine besondere Herausforderung, eine andere Art zu arbeiten. Man erlebe dabei immer wieder große Überraschungen. Das Theater an diesem besonderen Ort fange eigentlich schon in der U-Bahn auf dem Weg an, viele Vorurteile gegenüber Gefangenen ließen sich damit widerlegen und Stereotype entgegen treten. Die Teilnehmer würden nicht nach ihren Taten befragt und bewertet, so solle ein möglichst neutraler Raum entstehen. Es ist auch die vermeintliche Authentizität, die Regisseure in den Knast lockt. Figueroa betont, es werde beim Spielen unklar, was „echt“ sei, das ganze habe etwas „pures“, die Naivität nicht professioneller Schauspieler etwas besonderes. Die JVA Plötzensee, eine Anstalt „mittlerer Sicherheitsstufe“, sieht ihren Auftrag als steuerfinanzierte Institution darin, sich zu öffnen. Das Theater stelle eine kostenneutrale Erweiterung der Möglichkeiten der „Resozialisierung“ dar, daher sei man dem Projekt gegenüber positiv gesonnen. Ein Vertreter der Anstalt geht so weit, zu sagen, Plötzensee sei „kein Knast im klassischen Sinne“. Was das bedeuten mag bleibt sein Geheimnis.

http://www.gefaengnistheater.de

Der Seewolf. Einmal im Leben.

Vorstellungen in der JVA Plötzensee: 28.11., 29.11., 04.12., 05.12., 06.12.

MIt dem Gefängnistheater beschäftigt sich auch der Artikel „Versprechen und Strafen“ in der aktuellen Ausgabe der Konkret.