Gedenkorte und die Fontäne von Winnyzja

Artikel im Neuen Deutschland vom 13. Juni:

Die Stadt scheint fast vergessen zu machen, dass die Ukraine unruhige Zeiten durchlebt

Dem äußeren Anschein nach zeigt sich die ukrainische Gebietshauptstadt Winnyzja von den Ereignissen im Lande nahezu unbeeindruckt.

Von Johannes Spohr

Glühende Zigarettenstummel fliegen im 20-sekündigen-Abstand von den Balkonen des Hauses der Gewerkschaften des Gebiets Winnyzja in die Nacht. Der Rasen, auf dem sie landen, ist noch nass von einem heftigen Gewitter, das jeden Nachmittag wiederzukehren scheint. Nachdem in den letzten Monaten Gewerkschaftsgebäude in Kiew und Odessa gebrannt haben, kann ich zunächst ein leicht mulmiges Gefühl aufgrund dieser Unterkunft nicht ganz verdrängen. Doch in Winnyzja gibt es diesbezüglich kaum Anlass zur Sorge. Im gegenüberliegenden Park wiederholte bis zum Sonnenuntergang eine Band etwa fünfzehn Mal dasselbe Lied – ein ausführlicher Soundcheck. Vor ihrem Auftritt sind die Skater von den Halfpipes verschwunden, und nur noch wenige toben sich im Freiluft-Fitnessstudio aus. Der zentrale Stadtpark ist einer der Faktoren dafür, dass Winnyzja ein hoher Lebensstandard nachgesagt wird.

Die eigentliche Attraktion befindet sich jedoch etwa zwei Kilometer entfernt, die zentrale Sobornastraße hinunter. Auf die Musikfontäne hatte mich bereits die Hotelbesitzerin am ersten Abend in aller Deutlichkeit aufmerksam gemacht: »In die Sauna können Sie später noch gehen, erstmal müssen Sie sich die Fontäne anschauen!«

Am Ufer des Bug drängeln sich im Sommer allabendlich Hunderte, bei der Eröffnung im Jahre 2011 sollen es gar 70 000 gewesen sein. Erbaut wurde sie vor der Roshen-Fabrik, auf deren Logo der Blick beim Schauspiel unweigerlich fällt. Bis zu 60 Meter hoch schießen die Wasserfiguren, von Musik begleitet und von Licht durchflutet. Ein Projektor und ein Lasersystem bereichern das Schauspiel um eine Videoshow. Die Zuschauer versorgen sich mit Zuckerwatte, Hot Dogs und diversen blinkenden Accessoires, bevor sie einen Sitzplatz an der Uferpromenade ergattern. Maria, die ebenfalls zum ersten Mal hier ist, erklärt mir, die Firma Roshen des mittlerweile amtierenden Präsidenten und Schokoladen-Oligarchen Petro Poroschenko habe die Anlage bauen lassen und der Stadt geschenkt. Es habe nicht lange gedauert, bis bemerkt wurde, dass die Unterhaltungskosten immens und vermutlich viel höher als die für den Bau sind. »Aber jetzt will sicherlich niemand mehr hier auf das Spektakel verzichten«, ergänzt Maria grinsend. Nicht umsonst verbuchte Poroschenko im Gebiet Winnyzja eines seiner besten Wahlergebnisse. Wurden ihm im Gesamtergebnis der Ukraine 54,7 Prozent der Stimmen zugeschrieben, erhielt er hier 67,3 Prozent. Nur im westlichen Lwiw war sein Stimmenanteil noch höher.

Während des einstündigen Wasser-Licht-Musik-Spektakels könnte man jedenfalls vergessen, in welch unruhigen Zeiten sich die Ukraine befindet. Auch sonst wirkt die Szenerie des Alltags in Winnyzja unaufgeregt. Im Wahlkampf saßen auf einigen Plätzen und vor dem zentralen Markt wenig motiviert erscheinende Helferinnen und Helfer in Plastikzelten: solche mit den Konterfeis Julia Timoschenkos und Petro Poroschenkos neben denen der nationalistischen Partei Swoboda und des Rechten Sektors. Ins Auge stechende Graffiti an Baustellen fordern »Ehre den Helden des Maidans«. Auf dem Theaterplatz gab es einen kleinen Ableger des Kiewer Maidans, auf den nach wie vor Menschen kommen, um Blumen und Kerzen neben die Bilder der im Februar Erschossenen zu legen, unter denen auch drei Personen aus Winnyzja waren.

Auseinandersetzungen gab es auch hier in der Stadt, erklärt der Lokalhistoriker Professor Galschak während eines Rundgangs: »Es gab Zelte, die Leute wechselten sich in Schichten ab und waren bereit zu kämpfen.« Als der Gebietsgouverneur dort versuchte, dort eine Rede zu halten,wurde er in die Flucht geschlagen. Nun gibt es die Idee, den Platz durch Umbenennung und ein Denkmal den etwa hundert in Kiew Ermordeten zu widmen. Selbstschutzeinheiten sind bis heute präsent. Auf dem Eingang des von ihnen in Beschlag genommenen Gebäudes ist neben Stickern des Rechten Sektors zu lesen: »Gebt das Eigentum der Kommunistischen Partei den Menschen in der Ukraine zurück!« Die KPU, glaubt Professor Galschak und findet offenbar nichts dabei, werde sicherlich bald verboten.

An dem Protest in Winnyzja hätten sich Studierende, Journalisten, Künstler, einige ältere und viele junge Menschen beteiligt. Das Spektrum des Rechten Sektors habe dabei nur einen kleinen Teil ausgemacht. Einig sei man sich im Wunsch nach Zuwendung zu Europa gewesen: »90 Prozent wollen diese Richtung einschlagen.«

Die größten Plakate in der Stadt ziehen befremdlich anmutende historische Vergleiche: »Wir haben Hitler besiegt, wir werden auch Putin besiegen«, ist dort zu lesen. An den Sieg über Hitler und die deutschen Besatzer erinnern in der Stadt bis heute Ehrenmale aus Zeiten der Sowjetunion. Wer sich in der Gegend mit der deutschen Besatzung beschäftigt, stößt unweigerlich auf Spuren der Täter und ihrer Taten. Nahe einer Gärtnerei im Norden der Stadt wurden im September 1941 und im April 1942 über 15 000 Menschen von Einsatzgruppen ermordet. Den nach dem Kriege aufgestellten Gedenksteinen auf den Massengräbern ergänzte die Jüdische Gemeinde 2003 durch eine eigene Steintafel. Schon vorher wurde dem alten Stein ein Davidstern hinzugefügt, um – anders als zu sowjetischen Zeiten – kenntlich zu machen, dass es sich fast ausschließlich um jüdische Opfer handelte. Ein weiterer Stein erinnert an die etwa 5000 ermordeten Kinder.

Isaak Novoseletskiy, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, erklärt, es werde demnächst mit dem Bau eines großen neuen Memorialkomplexes begonnen. Der Vorschlag sei von den verantwortlichen politischen Gremien abgesegnet worden. Die Renovierung habe bereits begonnen, erklärt er und deutet auf einige zusammengetragene Gehwegplatten. Die verschiedenen Gräber sollen verbunden werden, so dass ein würdiger Ort des Gedenkens entsteht.

Etwa sieben Kilometer nördlich liegt Stryschawka, ein historischer Ort im Umbruch. Dort, wo unter Einsatz von etwa 15 000 Zwangsarbeitern das »Führerhauptquartier Werwolf« errichtet wurde, sind fast nur Reste gesprengter Bunker erhalten geblieben. Ein bereits seit 2011 existierender Lehrpfad auf dem Gelände ist nun durch ein Museum ergänzt worden. Vor der Eröffnung der Stätte gab es Kritik von Bürgerinitiativen, die befürchteten, Neonazis könnten sie als Wallfahrtsort missbrauchen. Die Kommunistische Partei sprach von einer Verhöhnung der Opfer. Andere hofften, dass mehr Touristen in die Gegend gelockt werden.

Ein 1943 geborener Nachbar, der wie die meisten Bewohner erst nach dem Krieg in diesen neuen Teil des Dorfes zog, kennt noch viele Geschichten, die ältere Menschen in der Gegend über die Zeit der deutschen Besatzung erzählten. Er weist uns auf einen weiteren Gedenkort auf der anderen Seite der Hauptstraße hin. Erinnert wird dort an etwa 12 000 umgebrachte sowjetische Kriegsgefangene.

Noch weiter nördlich siedelten die Besatzer damals Deutsche an, während ukrainische Familien vertrieben wurden. Bereitwillig erzählt uns eine 92-Jährige vom damaligen Alltag und dem Terror der Deutschen, wie auch von der Ermordung der damals zahlreichen Jüdinnen und Juden. Sorge bereite ihr aber auch die gegenwärtige Situation. Damals sei es Hitler gewesen, heute sei Putin für Verbrechen verantwortlich. Gestern habe Sie mit ihrem Sohn Nachrichten geschaut, danach hätten sie gemeinsam geweint. Man merkt ihr die große Sorgen an, die ihr die Entwicklungen in der Süd- und Ostukraine bereiten, und auch jetzt kämpft sie mit den Tränen.

Auf dem holprigen Rückweg erblicken wir unweit des Dorfes ein Panzerfahrzeug, um das sich einige Männer in Tarnkleidung scharen. Auch die Sandsackburgen auf der Hauptstraße, an die man sich schon längst gewöhnt hat, fallen nun wieder ins Auge. Eindrücke wie diese lassen den Beobachter aus der Fremde bisweilen ratlos zurück und stören das Bild von Ruhe und Gelassenheit in der Region.

Poroschenkos Hochburg

Kapitel aus der jüngeren Geschichte Winnyzjas

Winnyzja (russisch Winniza, polnisch Winnica) ist das administrative Zentrum des gleichnamigen ukrainischen Gebiets im historischen Podolien und hat etwa 370 000 Einwohner. Die Stadt wurde im 14. Jahrhundert am rechten Ufer des Flusses Südlicher Bug gegründet. Sie liegt etwa 260 Kilometer südwestlich und vier Autostunden von der Hauptstadt Kiew entfernt.

Winnyzja gilt als Hochburg des neuen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko. In seinem dortigen Wahlkreis wurde er 1989 zum ersten Mal ins ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, gewählt. Der Oligarch und Besitzer des Schokoladenimperiums Roshen hat hier eine seiner Fabriken mit einer Jahresproduktion von 50 000 Tonnen.

Die Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert hat manches dunkle Kapitel. 1937 und 1938 ließ der sowjetische Geheimdienst NKWD in Winnyzja mindstens 9432 politische Gefangene hinrichten – ein Kapitel des Großen Terrors in der Sowjetunion jener Zeit.

1941 eroberte die deutsche Wehrmacht Winnyzja. Der westliche und der zentrale Teil der Ukraine, und damit auch Winnyzja, wurden während der Zeit der Deutschen Besatzung 1941-1945 zum „Reichskommissariat Ukraine“ erklärt, in dem die sogenannte Germanisierung wie auch die Vernichtung der Juden zu den Hauptzielen der Nazis gehörten. Massenerschießungen von jüdischen Menschen fanden vor allem an zwei Gruben im Norden der Stadt im September 1941 und April 1942 statt. Zu den Opfer dieser Politik gehörten neben Jüdinnen und Juden vor allem Sowjetische Kriegsgefangene.

Etwa 100 Kilometer nördlich in Winnyzja wurde ab Ende 1942 ein 14 Quadratkilometer großes Gelände als das deutsche Siedlungsgebiet „Hegewald“ deklariert. Am Rande dieses Gebietes hatte Himmler sein Hauptquartier eingerichtet.

Das als Alternative zur „Wolfsschanze“ in Nordpolen gebaute „Führerhauptquartier Werwolf“ nördlich der Stadt wurde nur weniger Male genutzt. Nach dem Mord an annähernd 5000 Jüdinnen und Juden, die von den Nazis als „Risikofaktor“ bezeichnet wurden, wurde die Gegend als „judenfrei“ deklariert.

Heute hat die Jüdische Gemeinde Winnyzjas rund 700 Mitglieder. Das Gebäude der ehemaligen Synagoge wurde der 1887 gegründeten Gemeinde 1992 zurückgegeben, seitdem findet dort wieder religiöses Leben statt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren nach dem Zerfall der Sowjetunion bereits 19 000 Jüdinnen und Juden aus der Stadt Winnyzja ausgewandert. jsp

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