Goethe in Buchenwald

Artikel in Konkret vom November 2015.

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Zum Umgang der Goethe-Gesellschaften mit der NS-Vergangenheit. Von Johannes Spohr

„Ein Nazi darf nicht Galionsfigur der Goethe-Gesellschaft sein. Hielte die Goethe-Gesellschaft an Rudolf Spohr als Ehrenvorsitzenden fest, sänke sie sofort auf das Niveau eines obskuren Vereins hinab, der Goethes Namen missbraucht.“ So begründet Elmar Hüttenmeister, Mitglied der Goethe-Gesellschaft Nordenham, seinen Antrag, dem 2006 verstorbenen Rudolf Spohr den Ehrenvorsitz abzuerkennen. Die Entscheidung soll getroffen werden, sobald eine Einschätzung der Historischen Kommission des Landes Niedersachsen vorliegt.

Über Spohrs Rolle während des Nationalsozialismus wird in der niedersächsischen Kleinstadt seit bald einem Jahr heftig gestritten. Spohrs Karrierebewusstsein, das für ihn lebenslang handlungsleitend bleiben sollte, und sein engagierter Opportunismus brachten ihn unter anderem mit dem Oberkommando des Heeres (OKH) in die Ukraine und in die Wolfsschanze sowie immer wieder in Berührung mit Elitekreisen der Wehrmacht. Sein später verleugnetes Wissen über den Judenmord hielt er schriftlich fest; den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion sah er nur als Beginn notwendiger Handlungen, ohne die „wir dem Koloss ans Messer geliefert gewesen“ wären: „Mögen wir nach dem Sieg im Osten stark genug bleiben, um mit den größeren Problemen, die über Europas Grenzen hinaus gehen, fertig zu werden und den Frieden unserem Volk erkämpfen, der den Einsatz von diesen Mengen Blut immer und ewig lohnen wird.“

Mit derlei Fakten, zitiert aus Fundstücken aus Spohrs Nachlass, sahen sich die Nordenhamer durch einen Presseartikel im September 2014 konfrontiert. Er hätte kaum so ein immenses Echo hervorgerufen, wäre Spohr nicht ein bis heute angesehener und geehrter Bürger der Stadt. Bekannt war er dort bis dahin für seine beruflichen Erfolge und vor allem für sein Engagement in der 1946 gegründeten lokalen Goethe-Gesellschaft, einer Tochtergesellschaft der Weimarer. Ab 1952 war der gebürtige Weimarer ihr stellvertretender Vorsitzender, ab 1956 25 Jahre lang Vorsitzender. „Die Goethe-Gesellschaft war zum Standbein der Nordenhamer Kultur geworden, und das geht im wesentlichen auf ihn und seine Mitstreiter zurück, die im kleinen Kreise das Programm gemacht haben“, sagt Burkhard Leimbach, der heutige Vorsitzende, 2014 in einem Interview. Spohr habe „die Goethe-Gesellschaft zur zweitgrößten Deutschlands gemacht“. Spohr selber schrieb im Juli 1947 an seinen Kriegskameraden Ernst Jünger: „Was wir allerdings so täglich erleben, nimmt einem manchmal die Freude am Dasein. Zum Glück besteht ja aber das Leben nicht nur in Kalorienwerten. So wurde z.B. hier eine Ortsgruppe der Goethe-Gesellschaft gegründet, und wir hatten im vergangenen Winter manchen wertvollen Abend.“

Zu einer Zeit also, in der in der Ukraine die Betroffenen des deutschen Vernichtungskriegs zu Tausenden provisorisch in Erdhöhlen lebten, schuf man im Land der Kriegsverlierer nicht nur in Nordenham Goethe-Gesellschaften. Nach dem in Deutschland vornehmlich als „Katastrophe“ wahrgenommenen Kriegsende war „unbelasteter“, geistig-moralischer Kitt gefragt. Johann Wolfgang von Goethe galt als einer der wenigen großen Namen, den sich die Nazis nie eindeutig angeeignet hätten. Dabei wurde der Goethe- und Weimar-Kult der Nazis vernachlässigt. Es hieß, die Nazis hätten mit Goethe einfach nichts anfangen können.

Das Verhalten der Goethe-Gesellschaften während des Nationalsozialismus ist lange Zeit sehr schwammig und teilweise als passiv und von Unterdrückung geprägt gezeichnet worden. In Erhard Bahrs Studie über Julius Petersen, den Vorsitzenden der Goethe-Gesellschaft zwischen 1926 und 1938, heißt es jedoch, „dass das nationalkonservative Bürgertum die Politik im Vorstand beherrschte und der von Vorstand und Präsident gepflegte Diskurs eine Affinität zum Diskurs der NS-Partei aufwies“. Man habe sich der Zuneigung der Machthaber immer wieder versichert. Apokalyptische Vorstellungen seien auch im konservativ bis reaktionären Kurs der Goethe-Gesellschaft während der Weimarer Republik verbreitet gewesen. Daher sieht Bahr das Jahr 1933 innerhalb der Goethe-Gesellschaft eher als Erfüllung als als Bruch. Nach 1933 nahm die Gesellschaft keine Juden mehr auf.

So war es auch nicht die Vergegenwärtigung der Barbarei, sondern der wohlige Rückzug auf das vermeintlich unbefleckte Deutschland, das den Goethe-Jüngern zur dringlichen Nachkriegsaufgabe wurde. Der Historiker Friedrich Meinecke brachte dies 1946 auf den Punkt: Wer sich in Goethe und Mörike versenke, „wird in allem Unglück unseres Vaterlandes und inmitten der Zerstörung etwas Unzerstörbares, einen deutschen character indelebilis spüren“. Die fast sakrale Verehrung Goethes offenbarte sich besonders in den Feierlichkeiten seines 200. Geburtstags 1949.

Die „Unbekümmertheit, mit der man sich allerorten schon wieder anschickt, Goethe zu feiern“, hat Richard Alewyn bereits 1948 kritisiert. Der Germanist und Literaturkritiker, der nach seiner Entlassung in Deutschland 1934 emigriert war, war da gerade zurückgekehrt. In seiner Einleitung zu einer Goethe-Vorlesung an der Uni Köln im Sommersemester 1949 mahnte er, die Deutschen könnten sich nicht Goethes rühmen und Hitler leugnen: „Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald.“ Er warnte vor einer „Massenflucht nach Weimar“ und stellte zur Diskussion, ob das 1944 abgebrannte Goethe-Haus nicht zu Recht in Trümmern läge, da der unbekümmerte Bezug auf Goethe unmöglich geworden sei. Die Frankfurter Stadträte stimmten jedoch dem Plan des Freien Deutschen Hochstifts, das Goethe-Haus bis 1949 getreu zu rekonstruieren, fast einhellig zu: Hochkultur in der Trümmerwüste.

Deutsche Klassiker und ihre Beständigkeit waren für die Überlebens- und Bewältigungsstrategien einiger Verfolgter angesichts der Lagerrealität wichtig. Mit dem Goethe-Zitat „Die Erde steht noch, und der Himmel wölbt sich noch über mir!“ beginnt Nico Rosts Tagebuch Goethe in Dachau, und Jorge Semprún lässt Goethe imaginär durch das KZ Buchenwald wandern. Unter den von der Volksgemeinschaft ausgeschlossenen begann also bereits im Angesicht der NS-Gesellschaft eine kontextualisierte Goethe-Rezeption, die Alewyn und andere nach dem Krieg für unabdingbar hielten.

Ob die Gründer der Nordenhamer Goethe-Gesellschaft diese Stimmen wahrnahmen? Das Programm der fünfziger und sechziger Jahre lässt jedenfalls erahnen, wo die Präferenzen lagen. So lud man die eben noch glühende Nationalsozialistin Elly Ney zum Klavierabend und beteiligte sich so an ihrer nahtlosen Rehabilitierung. Sogar Carl Orffs „Carmina Burana“ empfand Ney als „Kulturschande“ und erreichte 1942 Aufführungsverbote. (Bis dahin war das von Orff Mitte der dreißiger Jahre komponierte Stück auch bei Hitler beliebt, und Orff, der selbst nicht besonders an Politik interessiert war, verstand es wie Spohr, sich mit den NS-Machthabern zu arrangieren.) Der Schriftsteller Gerd Gaiser, ehemaliges NSDAP- und Lehrerbund-Mitglied und Fliegeroffizier im Zweiten Weltkrieg, schrieb auch für die Zeitschriften „Das Innere Reich“ und „Das Reich“. Während sich Kritiker öffentlich gegen Gaisers Reetablierung aussprachen, lud die Goethe-Gesellschaft auch ihn zur Lesung ein.

Der Literat Bernt von Heiseler, der NSDAP-Mitglied war, reiste ebenfalls Mitte der Sechziger für einen Vortrag nach Nordenham. Die Nachkriegsgeschichtsschreibung über den Nationalsozialismus verurteilt er in seinem Buch Vaterland nicht mehr Mode? als eine „gefärbte und vergiftete Speise“, Deutschland nennt er eine „vorbestrafte Nation“. Damit wird er bei Rudolf Spohr auf offene Ohren gestoßen sein. Dieser schrieb nach dem Krieg seinen Kriegskameraden, man könnte ja nie wissen, was in kurzer Zeit schon wieder alles ein Verbrechen sei. Einem noch Kriegsgefangenen wünschte er, „dass Sie recht bald das kleine Gefangenenlager mit unserem gemeinsamen großen vertauschen dürfen“. Dass gleichwohl auch Überlebende der Shoah wie Jurek Becker zu den Gästen der Goethe-Gesellschaft zählten, bringt den Vorsitzenden Leimbach zu der Frage: „Wie ist Rudolf Spohr damit umgegangen?“ Nun sind Überlebende nicht nur Überlebende, und so ist etwa bei Becker zu vermuten, dass ihn eher seine Opposition zur DDR für die Goethe-Gesellschaft interessant gemacht hat. Dass jedoch nicht die Werke der vormals Exilierten, der Ermordeten und Überlebenden im Mittelpunkt des kulturellen Interesses standen, wird ebenso deutlich wie die banale Grundübereinkunft der Goethe-Gesellschaft, die Verantwortlichkeiten in der NS-Gesellschaft nicht zu thematisieren. So bleibt auch der Ausschluss der jüdischen Goethe-Begeisterten durch die NS-Volksgemeinschaft unhinterfragt und unrevidiert.

Die Gewissheit, nicht oder nur sehr selten mit seiner NS-Vergangenheit konfrontiert zu werden, konnte auch Rudolf Spohr haben, und das bis zu seinem Tod. „Hochkultur“, vor allem deutsche Klassik, betrieben als Geschäft, brachte dem ehemaligen Offizier auch in der Nachkriegsgesellschaft Anerkennung. Einige Weggefährten Spohrs wollen sein kulturelles Engagement – vor allem im Hinblick auf „Internationalismus, Menschenliebe und Humanismus“ Goethes – als Kompensation verdrängter Schuld werten. Erkennbar wird jedoch kein Bruch, sondern der nahtlose Übergang in deutsche Kleinstadtbeschaulichkeit.

Verteidiger Spohrs wie sein Sohn Michael oder sein Bekannter und Nachbar Gerd Wölbling sind kreativ, wenn es darum geht, Indizien für Spohrs Unbehagen angesichts des Nationalsozialismus zu finden. Sie rechnen ihm etwa die Nähe zu den nationalpatriotischen Attentätern des 20. Juli positiv an. Diese kannte er allerdings aus einer Zeit, als sie noch nicht einmal taktische Gegner Hitlers waren.

Auch seine Verbundenheit mit einem ganz besonderen Kronzeugen führen Spohrs Verteidiger an: mit dem Schlachtenbummler und Antidemokraten Ernst Jünger. Spohr war ihm im Krieg gegen Frankreich 1939 unterstellt. Am 20. Juli 1947 schreibt er dem Stahlgewitterpoeten: „Wir konnten gar nicht fassen, dass der Anschlag misslungen war, und wussten, dass die letzte Chance einer gewaltsamen Entscheidung im Innern verloren war.“ Einige Erwähnungen in Jüngers 1942 erschienenen Tagebuch Gärten und Straßen sollen laut Wölbling Spohrs „Humanismus“ beweisen. Jünger habe sich in (einer nicht näher benannten) „Konfrontation“ zu den Nazis befunden und diese Haltung mit Spohr geteilt. Spohr, der sich besonders in den Nachkriegsjahren für die Rehabilitierung Jüngers einsetzte, dürfte auch die Verleihung des Frankfurter Goethe-Preises an den Elitemitläufer 1982 gefreut haben.

Heute scheinen wiederum Spohrs Anhänger wild entschlossen, dessen Ruhm und Ehre zu erhalten. „Es geht nicht an“, schreibt Jean Améry, „nationale Tradition dort für sich zu reklamieren, wo sie eine ehrenhafte war, und sie zu verleugnen, wo sie als die verkörperte Ehrvergessenheit einen wahrscheinlich imaginären und gewiss wehrlosen Gegner aus der Menschengemeinschaft ausstieß.“

Für Johannes Spohr ist die Entscheidung der Goethe-Gesellschaft über die Ehrenmitgliedschaft seines Großvaters Rudolf Spohr nebensächlich.

 

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