„Der beste Gefangene ist ein Ehemaliger.“

Als „ein Stück Rebellion gegen den Knast“ bezeichnen die Herausgeber_innen ein Dokument, welches unter dem Pseudonym Thomas Braven zum ersten Mal 1989 im „Paranoia City“ Verlag in Zürich erschienen ist.

Im damaligen Vorwort heißt es: „Das Schreiben ist eine Art, über die Mauer zu klettern, sie zum bröckeln zu bringen, zu diskutieren…sowohl drinnen wie draußen.“ Bravens „Vogelperspektive“, die den Leser_innen vor allem eine „Innenperspektive“ verschiedener Situationen bietet, eignet sich für eine Diskussion sowohl der Knastwelt an sich auch als auch der Bedingungen, die sie produziert. Die blumige Titel erinnert an den dem Text immanenten Freiheitsbegriff, an den auch von den Herausgeber_innen erinnert wird.

Thomas Bravens Biografie ist seit seiner Kindheit von Gewalt geprägt. Schon früh läuft er immer wieder von zu Hause weg und entwickelt Gegenbilder. So stellt er der von „Gewalt und Maloche“ geprägten Welt seines Elternhauses die Anwesenheit von „Zärtlichkeit und Zeit füreinander“ bei einer Liebschaft gegenüber. Für die Gewalt seines Vaters rächt er sich, indem er ihm das Mofa anzündet. Er klaut Geld, später begeht er Einbrüche und Raub. Er handelt mit Waffen, bis er sich schließlich 1979 in einem Überfall auf die Bundeswehr versucht, um anschließend die geraubten Waffen teuer verkaufen zu können. Immer wieder wird er wegen seinen Überfällen festgenommen und schließlich wegen versuchtem Mord und versuchtem Raub zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Zusätzlich kamen später drei Jahre wegen eines geglückten Ausbruchs hinzu.

Thomas Braven schreibt seine Erlebnisse in sehr direkter Alltagssprache nieder. Durch seine Schilderungen entsteht ein Bild einer im Vergleich zu heute wesentlich „normaleren“ Kriminalität, die auch in etlicihen linken Kreisen der 1980er Jahre en vogue war. Sind Bankraub und Überfälle heute sehr riskant geworden, waren sie damals noch eher erfolgreiches Modell alternativer Finanzierung zur Lohnarbeit oder zur Finanzierung des bewaffneten Kampfes und des Lebens im Untergrund.

Braven folgt in seinen Handlungen einer sehr simplen Logik, durch die er das Ziel eines kleinbürgerlichen Lebens mit anderen Mitteln verwirklichen will:

Wir hatten unsere Vorstellungen vom gemeinsamen Leben. Wir wollten heiraten und Kinder kriegen und ein eigenes Haus, einfach unabhängig sein. Füreinander Zeit haben, nicht so leben müssen wie unsere Eltern: nur Maloche, nie Zeit für irgendwas, nix gesehen von der Welt… immer abhängig.“

Er pocht auf das bürgerliche Glücksversprechen und will sich dafür schlichtweg keinen krummen Buckel arbeiten – eine sympathische Haltung. Braven wird übrigens – vermutlich aufgrund der Art seiner Delikte – im Vorwort von den Herausgeber_innen als „Krimineller“ bezeichnet, der sich zum „Rebellen“ entwickle. Er handelt meist individuell und nur gelegentlich mit anderen, ist jedoch keinesfalls Teil politischer, geschweige denn militanter Kämpfe, die um ihn herum stattfinden.

Trotzdem ist zu vermuten, dass er ohne die damals allgegenwärtige staatliche „Terrorbekämpfung“, länger auf der Flucht hätte bleiben können, nachdem er aus der JVA Bruchsaal ausbrach.

Braven lebt nicht nur in einer Welt der Brutalität und der Stärke, er reproduziert sie auch aktiv:

Ich meldete mich zur Bundeswehr, weil ich glaubte, da vieles lernen zu können für das Leben. Ich wollte gut kämpfen können, stark sein um mich zu wehren, die Familie verteidigen können.“

Die Knastwelt beschreibt Braven unbeschönigt und wenig romantisiert. Schnell hält er nach Leuten Ausschau, mit denen man „etwas anfangen“, sprich ausbrechen kann. Braven findet sich an keiner Stelle mit seiner Situation ab und wählt dabei durchweg den unbequemen Weg der Verweigerung und der Revolte. Er verweigert und sabotiert die Arbeit, schmiedet von Anfang an Ausbruchspläne. So wie jede Handlung seitens der Institution darauf ausgelegt ist, Gefangene zu brechen, so hat jede Handlung Bravens zum Ziel, sich nicht brechen zu lassen. Wie während der Zeit vor der Verhaftung geht es ihm dabei zunächst vordergründig um die Verbesserung seiner individuellen Situation: Er will raus aus dem Knast. Bildungsangeboten verweigert er sich. Er wolle nicht, das später gesagt werden könne, es sei ihm eine „Chance“ gegeben worden:

Mitarbeiten heißt zu lügen, die Augen verschließen vor dem, was sie tun, heißt eben den Karren mitschieben durch den Dreck. Das will ich nicht. Ich will, daß der Karren stecken bleibt, ich will die Räder lösen und dazu reicht’s mitunter, den Splint zu klauen…. […] die Umstände, warum ich ‚kriminell‘ geworden bin, sind die gleichen geblieben. Nur die darin lebende Person wäre nicht mehr der Metzger, sondern der Abiturient oder was weiß ich.“

Mit der Zeit nähert sich Braven politischen Ideen und Forderungen, die am Ende des Buches in dem Aufruf gipfeln, die Gefängnisse zu zerstören. Für diese Haltung und teils gelungene Sabotage und Ausbruch erhält er immer wieder Prügel von den Beamten und Strafen, wie der Unterbringung im „Loch“. Viele Szenen, die er beschreibt, geben Aufschluss auf Grundzüge des Strafvollzugs und dessen zerstörerische Grundlagen damals wie heute:

Die momentane ärztliche Versorgung in den Knästen hat nur einen Zweck: Nach außen hin demonstrieren, daß sie den Anforderungen gerecht wird. Die Realität spricht aber eine andere Sprache. Es geht denen schlicht darum, daß Gefangene nicht haftunfähig werden und daß wie draußen auch kein Krankheit die Arbeitsfähigkeit in möglichst kurzer Zeit wiederhergestellt wird, auch wenn das langfristig den Gefangenen schadet. […]

Schon alleine deshalb gilt die Forderung: Freie medizinische Versorgung ohne Staatsschutzkontrolle für alle Gefangenen!“

Braven leitet seine Forderungen stets aus dem ab, was er selbst sieht und erlebt. Immer wieder zählt dazu die Brutalität seitens der Beamten . Seine Schlussfolgerungen sind deshalb nicht unbedingt emanzipatorisch. Braven unterscheidet stets dichotom in „gut“ und „böse“. Als verantwortlich für die Knäste sieht er die „herrschende Klasse“, die zudem die „natürliche Lebensweise“ zerstört hätte. Anderen Gefangenen gegenüber macht Braven seine Solidarität davon abhängig, ob sie „gemeinsame Sache“ mit ihm machen und handelt dabei nicht immer solidarisch gegenüber denjenigen, die sich in der Haftsituation eher eingerichtet haben und zum Beispiel wegen ihrer internen Geschäfte unnötige Aufmerksamkeit auf sich vermeiden wollen. Aufgrund seiner widerständigen Haltung ist Braven im besonderen Fokus seitens des Personals. Er wird schließlich von anderen Gefangenen und der Außenwelt isoliert, jegliche Privilegien werden ihm entzogen. 1989 schließt er sich einem Hungerstreik Gefangener, vor allem aus den bewaffneten Gruppen, an. Dies ist der Schritt, der in einen Prozess der Verortung in kollektiveren Prozessen und Kämpfen Bravens mündet. Im Nachwort lässt Braven einen Sinneswandel im Zuge seiner Politisierung durchschimmern: Er wendet sich vom „Ganoventum“ und dessen Verteidigung ab, bezeichnet seinen einen früheren Lebenssil gar als „konterrevolutionär“. Die damit verbundenen Aktionen böten dem Staat nur eine Rechtfertigung für weitere Aufrüstung und Repression. Braven wehrt sich gleichzeitig gegen die von den bewaffneten Gruppen wie der RAF häufig ins Feld geführte Unterscheidung zwischen „politischen“ und „sozialen“ Gefangenen:

Manche haben in den Gefängnissen ein revolutionäres Bewußtsein erlangt und es wird sich der Folge zeigen, ob sie dessen gerecht werden. Aber ihr werdet lernen müssen, uns als Militante zu begreifen. Nie sind wir gefragt worden, ob wir einverstanden sind, „Soziale“ genannt zu werden.“

Dies ist eine der Kernaussagen, die der Text vermittelt. Es wird anhand eines Beispiels geschildert, was als „kriminell“ bezeichnetes Verhalten sein kann und dass es vor den Gefängnistoren keinen Halt macht. Im Gegenteil wird beschrieben, wie korrupte Beamte mit der Situation des Mangels Geschäfte machen.

Thomas Bravens Geschichte ist eine Geschichte der Stärke, die eines standhaften Einzelkämpfers. Sie steht für sich und wird als motivierender und Mut machender Text veröffentlicht. Lohnenswert und wichtig erscheint jedoch auch das Aufspüren all der Geschichte, die von Zweifel, Unsicherheit und Angst erzählen. Schwer zu beantworten ist nicht die Frage, warum Menschen in Haft sich auflehnen, sondern vor allem, warum so viele es nicht tun.

Beeindruckend ist vor allem das Durchhaltevermögen einer Person, die vermutlich auch leichtere Wege hätte einschlagen können. Dahinter steckt die implizite Forderung nach einem „guten Leben“, für das man sich weder verbiegen, noch krank arbeiten, auch wenn man dafür zu „illegalen“ Mitteln greifen muss. Es geht dabei nicht nur darum, „über die Runden zu kommen“. Er findet Gefallen an einem dekadenten Lebensstil, bei dem nicht genau darauf geachtet wird, wie viel Geld ausgegeben wird. Es handelt sich also nicht nur um die Aneignung von Geld, sondern auch die eines Lebensstils. Die Selbstverständlichkeit, mit der Braven zu anderen Mitteln als das der Lohnarbeit greift, verblüfft an einigen Stellen. Die biografische Karriere Bravens macht jedoch auch deutlich, wie er stückweise dazu kommt. Interessant wird der Text auch dadurch, dass es sich bei dem Verfasser nicht um jemanden handelt, der sich in politischen Zusammenhängen bewegt und deshalb in den Knast kommt. Die meisten solcher Texte stammen von politisch organisierten Menschen, hier entwickelt ein diesen Kreisen bisher fremder Gefangener politische Forderungen, die auf der Erfahrung der Situation der Einsperrung basieren.

Angehängt sind dem 160-seitigem Text einige Informationen über den Kontext der Zeit der ersten Veröffentlichung, wie auch ein Interview mit Braven von 1991. Eine kleine Chronologie der Knastrevolten in deutschen JVAs im Jahr 1990 macht deutlich, dass das Verhalten Bravens nur in diesem Zusammenhang zu verstehen ist.

Der Text wurde den ersten Herausgeber_innen zugespielt, auch die Kuriere waren ihnen, so schreiben sie, nicht bekannt. Die neuen Herausgeber_innen schreiben, das Buch sei ihnen in die Hände gefallen. Sie wollen die Geschichte Bravens als „rebellisches Leben“ der Öffentlichkeit zugänglich machen. In revoltenarmen Zeiten bleibt es vielleicht ein Stück Trost und gleichzeitig eine Perspektive, auf die hin gearbeitet werden kann. Interessant wäre es für die Neuauflage sicherlich gewesen, herauszufinden, wie die Geschichte weiter gegangen ist und was Thomas Braven heute macht.

 

Thomas Braven – Vogelperspektiven

Beziehbar über: Anarchist_innen in Solidarität, c/o Schwarzmarkt, Kleiner Schäferkamp, 20357 Hamburg.