Artikel in Der Freitag vom 10. März 2013
Ihre erste Amtshandlung am 1. März 2013 betraf den internationalen Waffenhandel. Selmin Çalışkan, neue Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, verlangte eine sofortige vertragliche Regelung, um zukünftig weltweit Waffenlieferungen kontrollieren zu können. Das war eine klare programmatische Ansage und zugleich ein Verweis auf die künftige Agenda des zuletzt kriselnden deutschen Ablegers der weltweit größten Menschenrechtsorganisation.Çalışkan soll frischen Wind in die deutsche Amnesty-Abteilung bringen. Das ist auch bitter nötig. Die 46 Jahre alte und in der Türkei geborene Deutsche ist die neue Hoffnung nach der heftigen Krise der vergangenen Jahre, die im Juni 2011 in dem Rausschmiss der damaligen Amnesty-Chefin Monika Lüke gipfelt. Lüke war im Juni 2011, nach knapp zwei Jahren als Generalsekretärin, zunächst ohne Angabe von Gründen gekündigt worden. Noch dazu drei Wochen nachdem sie ein Kind geboren hatte, also mitten im Mutterschutz. Die entlassene Juristin habe sich nicht in die „spezifischen Strukturen“ einarbeiten können, begründete Vorstandssprecher Alexander Hülle schließlich den Rauswurf. Auch von einem gestörten Vertrauensverhältnis war die Rede. Mittlerweile ist Lüke Integrationsbeauftragte des Landes Berlin.
Der Vorstand holte den 64 Jahre alten Wolfgang Grenz als altgedienten Amnesty-Mitarbeiter und eigentlich ewigen Stellvertreter auf den Posten des Generalsekretärs. Grenz war Everybody’s Darling und glättete die Wogen. Klar war dennoch, dass es, trotz einjähriger Verlängerung, bis zu seinem Ruhestand nicht mehr weit war. Gerade lange genug Zeit für die Suche nach einer würdigen Nachfolgerin.
Selim Çalışkan braucht den Vergleich mit ihren Vorgängern nicht zu scheuen. Sie ist gradlinig und kämpferisch – Eigenschaften, ohne die es nicht geht an der Spitze der deutschen Menschenrechtsorganisation. „Mich kann man überall mit einem Fallschirm abspringen lassen – ich bringe bislang immer etwas zustande. Es ist wunderbar, für Amnesty die Ärmel hochzukrempeln“, sagte sie selbstbewusst in einem Interview kurz vor Amtsantritt.
Wer die weltweit größte Nonprofit-Organisation für die Einhaltung der Menschenrechte vertritt und sich dafür zukünftig mit Waffenlobbies und Konzernen herumstreiten muss, kann dezente Zurückhaltung zugebenermaßen schlecht gebrauchen. Mut und ein gewisses Maß an Angriffslust hingegen schon: Den Bundessicherheitsrat, in dem Vertreter von Regierung und Parlament unter Ausschluss der Öffentlichkeit zusammenkommen, bezeichnete Çalışkan bereits als „kleinen, geheimen Klub“, von dessen Entscheidungen man sich nicht mehr abhängig machen dürfe.
Wenn Çalışkan für einen schärferen Ton gegenüber der Bundesregierung steht, dann ist das nur folgerichtig: Schließlich wurde auch Deutschland in den Amnesty-Berichten der vergangenen Jahre immer wieder kritisiert. Gerügt wurden zuletzt die massiven Abschiebungen von Roma und die mangelnde Aufklärung von Delikten, die Beamten im Rahmen von Polizei-Einsätzen vorgeworfen wurden. Immer wieder wird der Bundesregierung auch die mangelnde Transparenz bei den Entscheidungen über die zahlreichen Waffengeschäften angekreidet. Egal, ob es um innenpolitische Themen, Bürgerkrieg in Syrien oder um Gewalt gegen Minderheiten in Sri Lanka geht – Çalışkan sieht auf all diesen Feldern große Defizite der Regierung. Von der derzeitigen Flüchtlingspolitik ganz zu schweigen. In den kommenden Monaten will die neue Amnesty-Generalsekretärin auf dieses Thema einen Schwerpunkt setzen. Es ist gleichzeitig eines der Kernthemen von Amnesty: Bereits in den vergangenen Jahren hat die deutsche Sektion die Beteiligung der Bundesrepublik an der EU-Migrationspolitik kritisiert, die mit Maßnahmen zur „Flüchtlingsabwehr“ und „Grenzsicherung“, die für den Tod vieler Tausend Flüchtlinge mitverantwortlich sind.
Vor ihrem Wechsel zu Amnesty hat Caliskan das „European Network for Migrant Women“ aufgebaut: ein Zusammenschluss von Nicht-Regierungsorganisationen, der die Belange von migrantischen Frauen in der EU stärken soll. Zuvor hat Çalışkan für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit gearbeitet. Sie weiß also, wovon sie spricht, wenn sie die deutsche Politik kritisiert. Und sie weiß auch, dass Projekte, die Deutschland im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit fördert, nur lax im Hinblick auf die Einhaltung von Menschenrechtsstandards geprüft werden – zum Beispiel wenn in Afghanistan die schwierige Bildungssituation von Mädchen nicht berücksichtigt wird. Oder wenn sich von den Ausbildern niemand dafür zuständig fühlt, angehende afghanische Soldaten und Polizisten auf die Menschenrechten hinzuweisen.
„Für den Handel mit Bananen gibt es gleich mehrere internationale Regeln und Abkommen. Für die Lieferung von Waffen keine“, hat Çalışkan zu ihrem Amtsantritt gesagt. Einerseits zielte sie dabei auf eine Mitte März beginnende UNO-Konferenz, bei der über einen Waffenhandelskontrollvertrag verhandelt werden soll. Zum anderen zeigt sie damit, wie sie ihre Aufgabe künftig angehen will: ohne Blatt vor dem Mund, kampagnennah, als Prüferin im Sinne eines „Menschenrechts-TÜVs“, wie sie ihn der Bundesregierung kürzlich in Aussicht gestellt hat.
Die Krise bei Amnesty Deutschland scheint überwunden. Nimmt man Selmin Çalışkan beim Wort, bedeutet das hoffentlich nichts Gutes für all jene, die Menschenrechte weltweit für nicht so wichtig halten.