„Es gibt kein überflüssiges Wort“

geschrieben für ak 583 vom 17.05.2013

Vor über 50 Jahren legten Angehörige der Sonderkommandos Zeugnis über die Spurenbeseitigung der Naziverbrechen im Osten ab – jetzt werden sie auf deutsch veröffentlicht „In Borek hob man 7 bis 8 Gruben aus, in denen sich Hunderte Juden befanden, Erwachsene und Kinder, aus Hrubieszów. Wir fanden dies aufgrund der Dokumente heraus, die wir bei einem gefunden haben, aus denen hervorging, daß er der Fotograf aus Hrubieszów war. (…) Nach den Holzstapeln, die verbrannt wurden, berechne ich die verbrannten Leichen auf 25.000. Es muss noch viele solcher Lager gegeben haben. Ich hörte das aus einem Gespräch zwischen Schulz und Theimer heraus, die in der Nähe der Mühle standen.“ (Augenzeugenbericht Józef Sterdyner, April 1964)

In der Reihe Materialien des Konkret Literatur Verlags sind im April 2013 unter dem Titel „Diese außerordentliche deutsche Bestialität“ bislang unveröffentlichte Augenzeugenberichte von fünf Überlebenden der Sonderkommandos Borek und Lwów erschienen. Gespräche mit Angehörigen der zweiten und dritten Generation, sowie Fotografien und Dokumente ergänzen die einzelnen Berichte. Der Autor Jens Hoffman hat ein ausführliches Nachwort und ein hilfreiches Glossar verfasst. Hoffmann hat bereits im Jahr 2008 den Band „Das kann man nicht erzählen. ‚Aktion 1005‘ – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten“ veröffentlicht. Auf einer der ersten Seiten begegnet man dort den Namen Lipman Aronowicz, Józef Reznik, Jósef Sterdyner, Edward Gleich und Leon Eliezer Mandel: Hoffmann hatte bei seinen Recherchen in Yad Vashem Protokolle gefunden, die im Auftrag der israelischen Polizei in den 1960er Jahren angefertigt wurden. Sie waren auf polnisch verfasst, nur einzelne deutsche Sätze und Worte, die die Befragten wiedergegeben hatten, konnte Hoffmann lesen: Abbruchkolonne, Banditen, Berger, zehn Freiwillige, Bist du fertig?, Davon weiß ich gar nichts… Was hatten die Männer zu Protokoll gegeben? Allein in den ersten fünf Monaten nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion erschießen Einsatzgruppen und ihre Helfer mindestens 500.000 jüdische Menschen in Wäldern, Ortschaften, am Rand von extra dafür ausgehobenen Gruben. Bis zum Rückzug der deutschen Truppen morden die Killerkommandos mindestens 2,1 Millionen Zivilisten. Ab dem Frühjahr 1943, im Angesicht ihrer sich anbahnenden Defensive an der Front im Osten, versuchen die Deutschen gezielt, Spuren der Massenmorde zu beseitigen. Sie nannten diesen Plan Aktion 1005. Die dabei anfallenden Arbeiten mussten mehrheitlich jüdische Häftlinge in Sonderkommandos verrichten: Leichen ausgraben und verbrennen, Tatorte der konzertierten Vernichtungsaktionen einebnen, Massengräber zum Verschwinden bringen. Keiner dieser jüdischen Zeugen der Vernichtung sollte nach den Plänen der Deutschen überleben. Trotzdem gelang es einigen von ihnen – als Überlebende nicht nur der Shoah, sondern auch als Zeugen ihrer versuchten Beweisvernichtung. „Ich wusste damals schon: diese Berichte müssen veröffentlicht werden“, erzählt Jens Hoffmann, „aber ich konnte zu dem Zeitpunkt das finanzielle Risiko nicht tragen, sie auf eigene Faust übersetzen zu lassen“. Einige Jahre später übernahm er es dann doch – die Berichte hatten ihm keine Ruhe gelassen. Er organisierte die Übersetzungen und nahm die Recherchen und Suchanfragen nach den Zeugen auf. Zu spät kam er für den direkten Kontakt mit den Überlebenden: Lipman Aronowicz, Józef Reznik, Jósef Sterdyner und Leon Eliezer Mandel waren bereits verstorben, der Verbleib von Edward Gleich und einem sechsten Überlebenden, Perec Schechtmann/Schächter, blieb gänzlich ungeklärt. Ebensowenig gelang es Hoffmann, Olga Barniczowa und Marta Hollender ausfindig zu machen – die zwei Frauen, die vier der Überlebendenberichte für die israelische Polizei angefertigt hatten. Was hatte diese motiviert, manche der Berichte zu kommentieren, wie gelang es ihnen, zusammenzufassen, was damals nicht thematisiert wurde? Menschen, die in Ghettos eingesperrt und von den Deutschen von Lager zu Lager verschleppt worden waren, werden unmittelbar in die deutsche Vernichtungsmaschinerie hineingezwungen. Nachts werden sie gefesselt in Baracken oder Erdbunker gesperrt. Der Tonfall der Männer, während sie die Tätigkeiten beschreiben, die sie durchführen mussten, um die Spuren der ermordeten Menschen auszulöschen, bleibe, so notieren die Protokollantinnen, häufig nüchtern, ohne ein „überflüssiges Wort“, mancher spreche „in kalter und objektiver Weise“. Ausführlicher bewältigen sie es, sich über ihre Flucht und den Kampf gegen die Deutschen mitzuteilen. „Die Fesseln hatten uns nicht erschreckt, die Freiheit rief,“ gibt Lipman Aronowicz zu Protokoll. Wie es den Männern gelang, nach dem Krieg den Herausforderungen des Überlebens entgegenzutreten, darüber sprechen die Kinder von Lipman Aronowicz, Józef Reznik und Jósef Sterdyner. Jens Hoffmann fügt die Gespräche, die er mit ihnen im Jahr 2011 geführt hat, an die einzelnen Protokolle an. Er vermag es so, behutsam zwischen den sachlichen Schilderungen der Überlebenden, die in einer Art Vernehmungssituation heraus entstanden sind und den Beschreibungen der Angehörigen, wie sie das Leben ihrer Väter in Israel erinnern, zu vermitteln. Es entsteht ein bedachtes dialogisches Zeugnis, das eintritt für das „Recht der Toten, aus dem Schatten herauszutreten“, wie es Jens Hoffmann in seinem Buch aus dem Jahr 2008 bezeichnet hat.

Jens Hoffmann, »Diese außerordentliche deutsche Bestialität« Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten, Augenzeugenberichte und Gespräche, konkret texte 60, 224 Seiten, 2013, 21 Euro

ders., »Das kann man nicht erzählen« Aktion 1005 – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten, konkret texte 46/47 – Ermittlung, Doppelband 448 Seiten, 2008, 29.80 Euro