contra traditionem

»Durch die Anwendung des Begriffs Homosexualismus propagieren wir unweigerlich diesen Homosexualismus. Wir haben beschlossen, dass durch unser Gesetz Homosexualismus in keiner Weise propagiert werden darf.«

Elena Mizulina, Vorsitzende des Ausschusses für Frauen, Familie und Kinder der russischen Staatsduma

Russland, 2013.

Ute Weinmann schreibt in der Jungle World vom 20. Juni 2013:

„Am 11. Juni verabschiedete das russische Parlament mit nur einer Stimmenthaltung ein Gesetz, das die Verbreitung von Informationen, die geeignet seien, bei Minderjährigen eine »verquere Einstellung hinsichtlich der Gleichwertigkeit gleichgeschlechtlicher Beziehungen« gegenüber der aus Mann, Frau und Kindern bestehenden traditionellen Familie hervorzurufen oder gar ihr »Interesse dafür zu wecken«, unter Strafe stellt. Mit 120 Euro kann solch ein Vergehen nun geahndet werden, juristischen Personen drohen Bußgelder bis zu 25 000 Euro. Sind Medien oder das Internet involviert, gilt dies als erschwerender Umstand und für renitente Ausländer ohne Verständnis für den neuen russischen Korpsgeist sieht das Gesetz zusätzlich die Abschiebung vor […]

Nicht über Homosexualität soll von nun an in Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen geschwiegen werden, das Tabu gilt vielmehr hinsichtlich »nichttraditioneller sexueller Beziehungen«. […]

Ein Adoptionsverbot russischer Kinder durch gleichgeschlechtliche Paare aus dem Ausland ist bereits in Vorbereitung, ebenso wie die Möglichkeit, russischen Eltern das Sorgerecht zu entziehen, sollte ein Elternteil ein Kind gemeinsam mit einem gleichgeschlechtlichen Partner oder einer Partnerin erziehen.“

Mitteleuropa, 6.-15. Jahrhundert.

Die Reinterpretation der biblischen Geschichte des Untergang der Stadt Sodom durch den oströmischen Kaiser Justinian im „Codex Justinianus“ im 6. Jahrhundert führte dazu, dass homosexuelle Menschen (die damals freilich nicht so, sondern zunächst beispielsweise „Sodomiter“ genannt wurden) zu Sündenböcken für Naturkatastrophen wurden.

Das von vielen Theologen in ihren Abhandlungen benutzte Konzept contra naturam lehnte alle Formen der Sexualität, die nicht unmittelbar der Fortpflanzung dienen, ab. Der ebenfalls von Kaiser Justinian eingeführte Begriff contra naturam bezieht sich nicht in erster Linie auf gleichgeschlechtliches, sondern allgemein auf „widernatürliches“ Verhalten. „Bestialität“ und mannmännliche Sexualität werden unter „unnatürlichem Verhalten“ zusammengefasst.1

Diejenigen, die den Begriff „stumme Sünde“ gebrauchten, machten in der Regel keine Ausführungen über seinen Inhalt. Weder Gott, noch Teufel, noch die Menschen hätten dieser Sünde einen Namen zu geben gewagt. Die Menschen hatten Angst davor, sich selbst durch eine Benennung der Sünde zu verunreinigen oder bei anderen Menschen ein Verlangen nach derselben zu wecken.2

Brigitte Spreitzer interpretiert diese Handlungsweise als „die radikale Verweigerung der kulturellen Artikulation“, die eine Form der Auslöschung des Anderen darstelle, die weit über die bloß moralisch grundierte Ablehnung hinausreiche.3

Die kirchliche Gesetzgebung des Mittelaltes war bestimmt durch die Synoden, die die „Canones“ herausgaben. Diese sollten moralisch-rechtliche Vorschriften festlegen, dies betraf auch die Ideen über gute und schlechte Sexualität. Als Zweck der Ehe und damit der Sexualität galt vor allem Fortpflanzung. In den Synoden des 4. Bis 12. Jahrhundert wird Homosexualität als schwere Sünde behandelt und die Strafe der Exkommunikation vorgesehen. Auch das Abschneiden der Nase war im Mittelalter eine beliebte Form der Bestrafung und Stigmatisierung vermeintlich homosexueller Menschen.

Vergleiche kritikwürdiger politischer Entwicklungen mit Situationen des Mittelalters oder gar „dem Mittelalter“ hinken in der Regel. In den meisten Fällen wird das Mittelalter als Synonym für barbarische Zustände und/oder eine besonders regressive Politik genutzt. Es gibt jedoch auch Situationen, die Assoziationen mit bestimmten, tatsächlich mittelalterlichen Situationen hervorrufen, beispielsweise in dem Fall der neuen heteronormativen und schwulen- und lesbenfeindlichen gesetzlichen Bestimmungen in Russland.

Die Gemeinsamkeit besteht in erster Linie darin, das Verfolgte partout nicht benennen zu wollen, um sich nicht auch noch selbst zu „belasten“ bzw. Propaganda „dafür“ zu machen. In Russland dürfte gerade die Diffusität der neuen Gesetze zur Verunsicherung beitragen. Gleichzeitig schwingt eine gewisse Absurdität angesichts der Frage mit, wo „nichttraditionelle sexuelle Beziehungen“ anfangen und aufhören – welche Grenze soll hier gezogen werden? Als Zweck von Ehe und Sexualität wird hier wie dort die Fortpflanzung benannt.

Nasen werden in Russland jedoch auch in Zukunft wohl nicht abgeschnitten. Stigmatisiert sind nicht der heterosexuellen Norm entsprechende Menschen aber ohnehin – nicht nur in Russland. 120 Euro aufzubringen dürfte für viele Menschen bei einem geschätzten Durchschnittseinkommen von 580 Euro brutto (2011, Vergleich Deutschland: 2522 Euro) durchaus ein Problem darstellen. Vor allem geht es jedoch um die Hegemonie im öffentlichen Raum und darum, dass Menschen beispielsweise dafür festgenommen werden können, sich in der U-Bahn zu umarmen. Es wird sich zeigen, wie erfolgreich das Tabu sein wird, oder ob die Gesetzgeber_innen nicht immer öfter in die Verlegenheit kommen, genauer zu beschreiben, was sie da eigentlich bekämpfen wollen.

1 Hergemöller, Bernd-Ulrich: Grundfragen zum Verständnis gleichgeschlechtlichen Verhaltens im späten Mittelalter, in: Lautmann, Rüdiger: Männerliebe im alten Deutschland, Berlin 1992, S. 16.

2 Ebd., S. 18/19.

3 Bennewitz, Ingrid, Kasten, Ingrid: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter, Münster 2002, S. 15.

 

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