eisfrei. незамерзающий.

Erschienen im Read Magazin #21, Juli/ August 2014:

von Johannes Spohr

London calling, yes, I was there, too
An‘ you know what they said? Well, some of it was true!“

The Clash – London Calling

 

Der größte Matrose in Murmansk steht hoch über der Stadt. Der 39 Meter hohe Aljoscha erinnert, gewärmt von einer „ewigen Flamme“, an die Kämpfer der Arktis und soll die Heldenstadt vor Feinden bewahren. Sein Blick richtet er nicht nur Richtung Finnland, er schielt gleichzeitig auf einen Ort, den aufzufinden mehrere Tage dauert. Die Matrosenbar, es musste sie geben in einer Hafenstadt voller Kräne und Möwen – so meine feste Annahme. Von dieser nicht abzurücken zahlte sich nun aus, handelt es sich doch bei Murmansk nicht nur um einen Ort, dessen Existenz genauso wie Realität in dichtem Austausch mit zahlreichen Mythen steht, sondern – wie ich nun lernen soll – gleichzeitig ein Paradies der Entlarvung falscher Annahmen über die Pola-Region1 ist.

„Die Helden sind längst ausgestorben“, kommentiert Wonja, ein in die Jahre gekommener Dockarbeiter aus dem nahegelegenen Hafen die Aljoscha-Statue und bestellt sich routiniert eine weitere Coca-Cola. Umso mehr vertraue er dem grauen Betonkoloss. Wonja gehört in der Bar zu den „Anderen“, wie viele Matrosen und Seemänner, eher liebevoll als gehässig, die Dockarbeiter nennen. Ist es die Verbundenheit zum Meer, die sie hier zusammen ihre Zeit zwischen Arbeitseinsätzen totschlagen lässt? „Weißt du“, mischt sich der Gast Artjom lachend von einem Barhocker weiter aus ein, „die Typen denken immer, von uns bekämen sie spannende Geschichten zu hören. Und weil wir feine Kerle sind, bleiben sie dann auch ohne die Geschichten.“

Oleg, langjähriger Besitzer der Bar, lacht mit uns, bevor er an seiner Belomorkanal-Zigarette2 zieht. Auch die „Export“ Version ist mit besonders langen Papierfiltern ausgestattet. Man fragt sich unweigerlich, wohin wohl die Metallschachteln mit lateinischen Buchstaben exportiert werden mögen. Im kleinen Barraum, den Oleg vor fast zwanzig Jahren aus dem ehemaligen Holzlager hergerichtet hat, brennt schummriges Licht. Ein Kontrast zu den zahlreichen hell beleuchteten und mit mindestens einem Fernseher an jeder Wand behangenen Restaurants der Stadt, denke ich. War ich beim Eintreten auf kein Schild oder ähnliches gestoßen, was den Namen der Bar verriet, und deshalb auch fast wieder umgekehrt, teilt ihn mir die Tafel neben der Bar bereitwillig mit: незамерзающий, „eisfrei“. Später wird mit Oleg verraten, dass der Name sich nicht nur auf den ganzjährig eisfreien Hafen bezieht, sondern auch auf sämtliche Drinks, die hier angeboten werden. Eis ist überflüssig, meint Oleg. Auch wenn Nadya, eine Apothekerin aus dem nahegelegenen Zentrum der Stadt, das etwas anders sieht und mürrisch an ihrem Drink nippt.

Er selbst sei nie ein Trinker gewesen, und nach wie vor gelte das auch für viele seiner Gäste, so Oleg. Doch bei den zahlreichen Tragödien, die er mit ansehen musste, und auf dessen Opfer er bereits habe trinken müssen, sei es kaum möglich gewesen, dem Alkohol fern zu bleiben. Er meint damit beispielsweise das im Jahr 2000 gesunkene, weltweit bekannte Atom U-Boot K-141 Kursk. Einige der 118 dabei umgekommenen kamen regelmäßig hierher. Den Schmerz über die bei dem Untergang gestorbenen Bekannten hat Oleg nie überwinden können, und so besucht er regelmäßig das geborgene Stück des Wracks, das neben der Seefahrerkirche, unweit von Aljoscha, aufgestellt wurde. Im Jahr 2003 kamen weitere 9 Matrosen bei einem Unfall auf einem Atom-U-Boot im Fjord von Murmansk ums Leben. Dass Putin damals nicht reagiert habe, dass er an seinem Urlaubsort am Schwarzen Meer geblieben sei, ja, dass sogar die Angehörigen der Matrosen auf eigene Kosten nach Murmansk hätten reisen müssen, das werde er, sagt Oleg, nie verzeihen. Er stellte damals eine Spendendose für sie auf, die Bar wurde zum Anlaufpunkt der Angehörigen. Hier konnten sie sich austauschen, ihren Schmerz teilen, und ihn nicht zuletzt betäuben. Es seien aber auch feste Freundschaften daraus entstanden, berichtet Oleg und weist auf die Postkarten aus allen Teilen des Landes: Novosibirsk, Archangelsk, Moskau, Kasan, Krasnodar. Aber nicht immer geht es so schlimm aus: Ende 2011 konnte ein Feuer auf der Jekaterinburg gelöscht werden, ohne dass Menschen dabei ernsthaft zu Schaden kamen. Auch schmälern die Unfälle nicht den Stolz auf die in der Sowjetunion entwickelte Technik der Atom-Boote. Nur ein Steinwurf entfernt von hier liegt der Atom-Eisbrecher Lenin im Hafenbecken bereit zur Besichtigung. Noch ein Stück weiter ein weniger historisches, allerdings weltweit berühmt gewordenes Boot: die Arctic Sunrise, die im August 2013 bei einer versuchten Besetzung der Ölplattform Priraslomnaja von russischen Sicherheitskräften gestürmt wurde und dessen Besatzungsmitglieder anschließend verhaftet wurden. Bis heute wird um die Rückgabe gerungen. Wonja, der tagtäglich in unmittelbarer Nähe zum Schiff Container löscht, schüttelt, darauf angesprochen, den Kopf und setzt ein zynisches Lächeln auf. „Unglaublich, dass ausgerechnet dabei von Piraterie gesprochen wurde. Dass sich bis heute Sicherheitskräfte auf dem Boot befinden, macht das ganze nur noch lächerlicher.“, sagt er, und verrät mir, dass einer seiner Cousins einen der Inhaftierten der Arctic 30 im Knast getroffen habe. Sie hätten sich trotz der sprachlichen Barriere gut verstanden. Die von staatlichen Maßnahmen Betroffenen verbindet etwas, auch wenn sie verschiedener nicht sein könnten. Denn auch Wonja und seine Kollegen können ein Lied davon singen: 2010 kam es zu einer großangelegten Polizeiaktion im Hafengebiet, bei der auch sein Arbeitsbereich penibel durchsucht wurde. Es werde vermutet, illegale Ladungen würden den Hafen hier verlassen, hieß es damals. Der Betriebsablauf wurde tagelang eingeschränkt, „ein Millionenverlust entstand“, so Wonja. Viele seiner Kollegen trafen sich bei Oleg, wo, so wird mir klar, die Kritik an der russischen Regierung einen festen Platz hat.

Auch eine weiter staatliche Maßnahme, die Eindämmung des Alkoholverkaufs, hat scheinbar dazu beigetragen. Mittlerweile dürfen sowohl Supermärkte wie auch Kioske keine alkoholischen Getränke nach 21 Uhr verkaufen. Dass sich die meisten daran halten, kann Oleg durchaus recht sein, denn seine Kneipe hat sich nun auch mit denjenigen gefüllt, die nicht schnell genug einkaufen konnten oder sich spontan für ein Getränk entscheiden. Als Artjom mir verrät, dass aus dieser Melange hin und wieder rauschende Feste entstehen, pfeift ihn Oleg zurück. Im nächsten Moment grinsen wir uns jedoch mit vertrauensvoller Miene an und ich fühle mich wie ein Eingeweihter des Murmansker Underground. Der Abend wird mir in seinem weiteren Verlauf den lebendigen Beweis für Artjoms Andeutungen liefern. Die Details sollen allerdings exklusiver Teil dieser vielleicht einmaligen Subkultur bleiben, so mein mit einem doppelten Wodka besiegeltes Versprechen. Nein, es sind bei Weitem nicht nur die traurigen Anlässe, die Oleg zum Anstoßen bringen.

Und während die Matrosen, zwischen Olegs Kneipe, den nahegelegenen Stundenhotels und dem Hotel Morjak (Seemann) auf teils geheime Missionen warten, bleibt noch viel Zeit, um über die Veränderungen in der Stadt zu diskutieren. Ach, es sei doch alles wie immer, brummt ein bärtiger, Tee trinkender Mann vom gegenüberliegenden Tresen herüber, als die Jukebox verstummt. Und ob die Krim nun zu Russland gehöre oder nicht, merke man hier ohnehin nicht.

Ein jüngerer seiner Kollegen ist nicht nur froh, heute weit entfernt des Schwarzen Meeres stationiert und nicht dort eingesetzt zu sein, er ist auch hinsichtlich der lokalen Veränderungen anderer Meinung: „Die schönen alten Tupolews3 wurden eingestampft, der Café Sever4 ist geschlossen, und die Tobasa, in der ich jeden Sommer Urlaub machte, soll einer Ski-Anlage weichen.“

Und nun fällt auch dem Teetrinker ein, was sich verändert hat: „Die Matrosen sind nicht mehr rebellisch!“ Sein Großvater, der sei in Kronstadt gewesen und habe zum engen Kern der anarchistischen Aufständischen gehört. Er fiel der im Scheitern begriffenen Sowjetmacht zum Opfer. Oleg ist die Geschichte vertraut. Ihm wäre es ganz recht, wenn an diese Tradition häufiger angeknüpft würde – ein wenig mehr Rebellion gegen die Regierung könne doch nicht schaden. So etwas offen zu äußern könne einen schon mal in Schwierigkeiten bringen, doch Oleg habe keine Angst – „höchstens davor, dass mir die Kunden wegrennen und es hier einsam wird!“

Bevor ich die Stammkundschaft für heute schwermütig unter sich sein lasse, trinke ich einen Rum, der auch ohne Eis keine Schwierigkeiten hat, den Weg durch meine Kehle zu finden. Jemand zum anstoßen zu finden, fällt leicht. Oleg hat jedoch keineswegs Späße gemacht, als er mir erklärte, dass es einen zunehmenden anti-alkoholischen in der Bar Trend gibt. Ich bilde mir ein, dass der Weg ins Hotel „Morjak“ nach dem Rum dennoch besser zu meistern ist und kaufe mir am Kiosk eine Packung Belomorkanal-Zigaretten, mit der ich die Nacht hustend besiegele.

Geschrieben unter Palmen, 5500 entfernt von und nur zwei Wochen nach einer kaum eisfreien Zeit in Murmansk. Well, some of it was true! – aber wer findet die Sailor Bar?

1Es handelt sich nicht um einen Schreibfehler, also nicht um eine Polarregion. Pola-Region, weil sie sich auf die Pola-Halbinsel bezieht.

2Der Weißmeer-Ostsee-Kanal (russisch Беломо́рско-Балти́йский кана́л; Transkription: Belomorsko-Baltijskij kanal, bis 1961 russisch Беломорско-Балтийский канал имени Сталина; Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal) ist eine 227 km lange, aus Flüssen, Seen und künstlichen Abschnitten kombinierte Wasserstraße von Powenez am Onegasee durch den Wygosero bis nach Belomorsk (Soroka) am Weißen Meer im Norden. Er ist Teil des Weißmeer-Ostsee-Wasserweges, der Sankt Petersburg mit der Barentssee verbindet. Er wurde vom 16. Oktober 1931 bis zum 30. August 1933 auf Anweisung Stalins im Zusammenhang mit dem ersten sowjetischen Fünfjahresplan unter der Leitung von Naftali Aronowitsch Frenkel und Genrich Grigorjewitsch Jagoda mit Hilfe zehntausender politischer Häftlinge der sowjetischen Staatspolizei OGPU erbaut. 1983 wurde der Kanal mit dem Orden des Roten Banners der Arbeit ausgezeichnet.

3Das russische Unternehmen Tupolew (russisch Открытое акционерное общество „Туполев“/Otkrytoje akzionernoje obschtschestwo „Tupolew“, englisch: Tupolev Public Stock Company; früher OKB Tupolew) mit Sitz in Moskau ist einer der ältesten und war einer der wichtigsten Flugzeughersteller der Welt.

4The latest addition to the café front in Murmansk is “White Rabbit”. During half a year good old café “Sever”, an eatery in stout Soviet style, has been transformed into a modern café which might as well be on the Westside of Oslo or in the new center of Berlin. Maybe it is a bit soulless, as my good friend Sari will think – but with a totally wonderful offerings of food and drinks There are now so many great spots in Murmansk that you can eat and drink every night on a new exciting bar, cafe or restaurant for about two months.

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