Kidnapping became common

Erschienen im Read Magazin #21, Juli/ August 2014:

 von Johannes Spohr

Anna Makarenkova aus Donetsk arbeitet in einer NGO und möchte aus Sicherheitsgründen anonym bleiben. Sie hat sich intensiv mit der Geschichte ihres Großvaters beschäftigt, der zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurde und ein Konzentrationslager überlebt hat.

Eingestreut sind Exzerpte eines Chats mit Anna Makarenkova nach meiner Rückkehr nach Deutschland.

JS: Die Situation im Osten des Ukraine scheint derzeit sehr von Angst und Unsicherheit geprägt zu sein. Wie erlebst du den das Leben in Donetsk momentan?

AM: Sie ist sehr beunruhigend, vor allem die Ungewissheit macht mir zu schaffen. In dem Büro, in dem ich arbeite, sagen die Kolleg_innen, es gebe einfach nur Gerüchte und es sei eigentlich ruhig. Vor kurzem gab es beispielsweise das Gerücht, die Banken in der Region Donetsk würden geschlossen. Am nächsten Tag bildeten sich lange Schlangen vor den Banken, alle holten ihr Geld von den Konten. Ich habe begriffen, dass die Leute große Angst haben und denken, morgen könne der Zusammenbruch kommen. Niemand weiß, welchen Informationen tatsächlich zu trauen ist.

JS: Welche Informationsquellen nutzt du?

AM:Ich lese die Zeitung RBC, ich vergleiche die Russische als auch die Ukrainische Version. Aber auch dabei bin ich mir unsicher über die Quellen. Auch Beiträge aus Social-Media Plattformen sind für mich sehr wichtig. Man muss sich immer entscheiden, irgend jemandem zu vertrauen.

[27.05.14 14:02:57] AM: hi. I just received your letter but I’ll reply you later because now we have the perfect mess, nothing is clear. I just got the message from my friend to be prepare just in case and take the main things for evacuation. It wasn’t civil alert yet but we try to be ready and calm.

JS: Wie macht sich die momentane Eskalation in deinem persönlichen Umfeld bemerkbar?

AM:Die Geschichte meisten Familien hier ist auf irgendeine Weise direkt verbunden mit dem Zweiten Weltkrieg, so auch die der Familie meines Freundes. Sein Großvater erhielt in der Roten Armee die höchste Medaille der Sowjetunion. Er nahm an der großen Siegerzeremonie teil, bei dem die Nazistandarten auf den Roten Platz geworfen wurden. Seine Familie war immer sehr stolz auf ihn. Als nun während der Maidan-Proteste die russische Propaganda begann und behauptete, in Kiew regierten Nazis und alle Aktionen seien von irgend einem unsichtbaren Feind bezahlt, wurde auch an diese Familiengeschichten angeknüpft. Es hieß, man solle die Erinnerung an die rumreichen Großväter aufrecht erhalten, was für viele junge Menschen tatsächlich nach wie vor eine große Rolle spielt. Als nun in der Familie meines Freundes Diskussionen darüber aufkamen, fragten sie uns, ob wir diese europäischen Werte unterstützten, und: „Wir kannst du den Ruhm deines Großvaters vergessen?“ Die Anmerkungen wurden aggressiver, die Menschen wurden pauschal als Faschisten bezeichnet. Da ich englisch spreche und viele Freund_innen in Europa habe, wurde ich letztendlich auch als Feindin und eine „von der anderen Seite der Barrikade“ angesehen. Als „Kern des Problems“ sahen sie, dass die Menschen auf dem Maidan bezahlt würden und auch ich von Leuten aus Europa gesagt bekomme, was ich zu tun habe. Dies sei die Wurzel des Übels, also wurde auch ich zum Feind.

Für mich ist es okay, wenn Leute auf der Straße mir so etwas sagen. Aber nicht, wenn es in der eigenen Familie stattfindet. Dies ist der Punkt, wo ich sie nicht mehr verstehen kann. Sie wurden sehr wütend, als sie merkten, dass sie mich nicht umstimmen können. Nun sind wir nicht mehr in der Lage, über dieses Thema zu sprechen, und das, obwohl auch mein Großvater den Faschismus am eigenen Leibe erfahren hat. Soweit ich weiß, bin ich nicht die einzige, die momentan solche Erfahrungen macht. Die russische Propaganda behauptet ständig, hier würden bald viele Busse mit Banderaze (Anhänger von Stepan Bandera, Ukrainische Nationalisten) aus dem Westen ankommen, viele Legenden und Mythen kursieren um alles, was mit der ukrainischen Fahne zu tun hat. Und leider glauben viele daran.

[27.05.14 14:13:05] AM: Now airport and railway station are paralyzed. main roads from the city captured by terrorists (most of them are persons of Caucasian nationality, which means that it is not the local population at all). We still hope that this will not affect us. But since the operation is shifted to the center of town, we try to be on the alert.

JS: Hast du davon mitbekommen, dass Journalist_innen im Osten in letzter Zeit Drohungen erhalten haben?

AM:Ich kenne eine Journalistin, die in einer öffentlichen Organisation arbeitet, dem Committee of Voters of Ukraine. Seit dem Beginn der Proteste in Kiew bekam sie Telefonanrufe von Unbekannten. Sie sagten Dinge wie, „Du bist vom Maidan, also wirst du sterben. Wir kennen dich, wir wissen wo du wohnst. Sei also sicher, dass du eines Tages nicht nach Hause zurückkommen wirst.“ Bis heute erhält sie diese Anrufe. Die ist inzwischen in eine andere Stadt im Westen gezogen.

Es gibt hier ein Informationsportal mit dem Namen Ostra (Insel), auf dem auch englischsprachige Informationen veröffentlicht werden. Berichtet wird unter anderem über Verbrechen der Oligarchen. Vor zwei Wochen tauchten bei dem Chef des Portals nachts Menschen auf und eröffneten das Feuer. Er wehrte sich ebenfalls bewaffnet. Am nächsten Tag verließ er mit seiner Familie die Stadt. Solche Situationen gibt es momentan zuhauf. Das ist sehr angsteinflößend. Es trifft vor allem Menschen, die für Medien arbeiten, die öffentliche Aufgaben übernehmen oder Menschen in hohen Geschäfts-Positionen wie die Chefs der Minen, die von Separatisten unter Druck gesetzt werden.

Mein Freund arbeitet in der Verwaltung eines Minen-Unternehmens, das zum Oligarchen Achmetov gehört. Seine Kolleg_innen meines Freundes berichteten ihm davon, dass Leute in den Betrieb kamen und sagten, sie sollten die Arbeit für heute beenden. Sollten sie sich weigern, werde man sie als Befürworter der neuen Regierung in Kiew und somit ihren Interessen widerlaufend brandmarken. Somit könne nicht dafür garantiert werden, dass sie am darauffolgenden Tag noch am Leben seien.

Seit diesen Vorfällen arbeiten die Angestellten dieses Minenunternehmens von anderen Orten aus. Dieses Verfahren wurde immer wieder verlängert und nun auch nach der Wahl fortgeführt.

Niemand wusste hier übrigens, ob die Präsidentschaftswahlen stattfinden oder nicht. Ich konnte nicht herausfinden, ob und wo ich wählen konnte. Ich habe versucht, die verantwortliche Person aus meinem Wahlbezirk ausfindig zu machen, sogar das Ukrainische Wahlkomitee habe ich versucht zu erreichen. Ich habe herausgefunden, welches das nächste an meinem Wohnort ist, aber Vorbereitungen konnte ich keine wahrnehmen. Diejenigen, die für die Wahlkomitees arbeiten sollten haben sich teilweise verweigert, weil sie sich nicht in Gefahr bringen wollten.

[27.05.14 14:18:20] AM: really, if somebody tell me that it can even happend in my city, with all of us, and with my life – I wouldn’t believe [27.05.14 14:19:59] AB:: but it’s true – the day before the city was deserted. Today our office is also not working. and no one knows when it will be the end. [27.05.14 14:22:57] AM:: My colleague lives near the railway station – yesterday when the battle and gunfire began, they whole family hid in the basement

JS: Hast du dich an dem Referendum am 11. Mai beteiligt?

AM:Weder ich noch meine Freunde haben gewählt, aber zum Beispiel die Eltern meines Freundes. Ich habe auch von Leuten aus dem Krankenhaus mitbekommen, dass sie wählen, und von älteren Menschen. Mir war nicht einmal klar, worüber eigentlich abgestimmt werden sollte. Für irgeneine Form der Unabhängigkeit der sogenannten Nationalen Republik Donetsk im Rahmen der Ukraine, oder auch nicht, oder einfach für „Unabhängigkeit“. Viele wählten mit „ja“ als Zeichen gegen die Ukraine, oder als ihre Form des sozialen Protestes. Aber niemand kann beantworten, wofür genau sie gewählt haben, vielleicht auch für Russland, aber darum ging es nicht. Vielleicht auch für Unabhängigkeit, aber was heißt das? Niemand kann mir das beantworten. Manche glauben vielleicht, es sei der erste Schritt der Annäherung an Russland, aber ein zweiter wird sich ohnehin nicht darum drehen, sich Russland anzuschließen. Sogar Russland hat inzwischen gesagt „haut ab“.

Für viele Leute gibt es einfach keine Wahl. Wenn du wählen gehst, ist es einfach eine Art Statement. Gehst du nicht, wird jemand anders deinen Zettel nutzen. Jeder kann mit seinem Pass zum Wahltisch gehen, seinen Namen notieren lassen und kann dann wählen. Ich bin in Lugansk gemeldet, ich hätte einfach zwei mal wählen gehen können.

[27.05.14 17:15:13] AM: Every day comes information about the killed and wounded people in different parts of all Donbass region during the fighting. Unidentified men in military uniforms fired at cars of ambulance on different roads of Donetsk region. Some morgues in cities like Slavyansk, Donetsk and Gorlovka overwhelmed.

JS: Die Situation hat sich im Anschluss an die Wahl nochmals zugespitzt. Wie erlebst du das?

AM:Es ist ein völliger Ausnahmezustand. Die Straßen in der Innenstadt sind wie verlassen. Offizielle Autoritäten lassen sich auf der Straße kaum ausmachen, nur Menschen ohne Abzeichen auf der Uniform. Die Menschen bereiten sich auf alles vor, informieren sich über Bunker und teilweise die Möglichkeit auszureisen. Immer wieder kommt der öffentliche Verkehr jedoch zum Erliegen. Mein Freund und ich erwägen derzeit, temporär in eine Stadt umzuziehen. In meinem Büro wurde die Arbeit zunächst eingestellt. Bis dahin habe ich mir im Büro unbewusst vorgestellt, wie maskierte Leute hereinstürmen und alles zerstören, was sie mit den lokalen Autoritäten oder Achmetov verbinden. Die größte Gefahr sehe ich momentan dadrin, dass die neue Regierung den Donbass aufgeben könnte und wir hier im Stich gelassen werden.

[Am 8. Juni per Mail] AM: Today on the market we saw with Artem how two men came to the random man, grabbed him and taken to an unknown destination. He said them that he does not understand what is happening and where they are dragging him. […] Kidnapping became to common incident. Some people are kidnapped, even from home. And it’s incredibly scary.

Erwähnte Nachrichtenportale:

www.rbc.ua (more news about Ukraine) and www.ostro.org (more about Donbass)

rbc.ru and rbc.ua