Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft

Rezension in der Erziehungswissenschaftlichen Revue – EWR 14 (2015), Nr. 4 (Juli/August)

Rosa Fava
Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft
Eine rassismuskritische Diskursanalyse
Berlin: Metropol 2015
(397 S.; ISBN 978-3-8633-1202-2; 24,00 EUR)
Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft
Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Shoah hat in Deutschland seit 1990 eine immense Aufwertung erfahren. Die einst dominierende Verdrängung ist zumindest auf politisch-repräsentativer Ebene einer Indienstnahme für nationale Identifikation gewichen. Wo einst prekär arbeitende Initiativen an Orten nationalsozialistischer Herrschaft und Vernichtung Gedenken organisierten, sind oft staatliche Gedenkstätten mit repräsentativem Charakter und entsprechend begangenen Gedenktagen entstanden. Die Anerkennung der nationalsozialistischen Verbrechen ist auch auf der Ebene des politischen Handelns auf neue Weise zum Credo einer selbstbewussten Nation geworden. Dies lässt sich auch an der zunehmenden Rechtfertigung politischen Handelns „nicht trotz, sondern wegen Auschwitz“ ablesen. Bereits 1999 begründete die rot-grüne Bundesregierung ihre erste Beteiligung an einem Angriffskrieg nach 1945 in Jugoslawien mit der aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Verantwortung. „Wir können uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Das ist der Grund, warum deutsche Soldaten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in einem Kampfeinsatz stehen“, erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) damals im Bundestag [1].

Diese Veränderungen haben sich auch in den Erziehungswissenschaften niedergeschlagen. Rosa Fava zeigt in ihrer jüngst im Metropol-Verlag erschienen Dissertation, dass sich seit Mitte der 1990er Jahre ein erziehungswissen-schaftlicher und pädagogischer Diskurs darüber entwickelt hat, „wie die Einwanderungsgesellschaft in Deutschland und das Lernen über oder aus dem Holocaust beziehungsweise Nationalsozialismus zueinander in Beziehung zu setzen seien“ (9). In ihrer als rassismuskritische Diskursanalyse konzipierten Untersuchung hat Fava zentrale Themen, Topoi und Argumentationsmuster dieses Diskurses herausgearbeitet. Das Interesse gilt vor allem den im Sprechen über ‚Migranten‘ inhärenten Setzungen von Fremdheit und Andersartigkeit als Mechanismen dichotomer Identitätskonstruk-tionen. Diese werden, wie die Autorin annimmt, „im Widerspruch zur Intention der Diskursakteur_innen durch spezifische Charakteristika aus dem Diskurs über Auschwitz verstärkt“ und zur „Vergewisserung der Eigenarten als ‚Deutsche‘“ genutzt (ebd.).

Zu Favas Textkorpus gehören theoretisch-konzeptionelle Grundlagen der allgemeinen Didaktik einer „Erziehung nach Auschwitz“, Praxisberichte, empirische Studien und Konzepte für die Praxis von Lehrenden und Bildner_innen, die sich weitestgehend mit dem Bildungsauftrag „Nationalsozialismus“ in Deutschland befassen. Ihnen gemeinsam ist die Annahme, die Einwanderung nach Deutschland stelle die Erziehung nach Auschwitz vor neue Herausforderungen. Das Material umfasst auch Publikationen mit Einbezug von Eingewanderten oder Nachkommen von Eingewanderten sowie einige Repräsentationen der „Sicht von Migranten und Migrantinnen“ aus den Jahren 1995 bis 2011. Bei der Analyse der jeweiligen Texte hat Fava besonders im Blick, wie Menschen durch die Lehrenden bzw. Pädagoginnen und Pädagogen zu „den Anderen“ gemacht werden.

Im Anschluss an die Einführung widmet Fava sich zunächst im zweiten Kapitel den theoretischen und methodologischen Grundlagen ihrer Forschung, führt dabei in die Diskurforschung über Migranten ein und erläutert ihre Kategorien einer Diskursanalyse des Rassismus. Im umfangreichen dritten Kapitel wendet sie ihre Werkzeuge an und rekonstruiert konkret den Diskurs über die Neuausrichtung der „Erziehung nach Auschwitz“ im Einwanderungsland. Sie untersucht dabei diverse Praxisberichte, empirische Studien und Konzepte für die Praxis von Lehrenden und Bildner_innen. Schließlich liefert Fava ihre eigene Zusammenfassung und einen knapp gehaltenen Ausblick.

Der Begriff Othering (deutsch etwa: „zu anderen machen“) beschreibt den Prozess, mit dem aufgrund von tatsächlichen oder imaginären Merkmalen in „Eigene“ und „Andere“ unterteilt wird. Mit der Differenzierung und Distanzierung von der Gruppe der „Anderen“ wird auch immer die Normalität der „eigenen“ Gruppe bestätigt. In dem von Fava untersuchten Diskurs sieht das in der Regel etwa so aus: In Deutschland definiert sich die Mehrheitsgesellschaft darüber, die NS-Verbrechen anzuerkennen und aufzuarbeiten. Zu ihrer Grundlage wird die biologische Herkunft der „Täter“, durch die – so die implizite Annahme – unweigerlich Interesse an der NS-Geschichte entstehe. Dabei findet eine Homogenisierung statt, durch die beispielsweise jüdische Deutsche und Widerständler_innen und deren Nachfahren ausgeschlossen werden. Zudem werden als Migrant_innen empfundene Menschen zu einer „Herausforderung“, weil ihnen der familiäre Bezug zum Nationalsozialismus und daher das „natürliche“ Interesse am Nationalsozialismus fehle. Untermalt wird dies häufig mit der zitierten Aussage von Schüler_innen „Hitler ist euer Problem, nicht unseres!“. Auf dieses „Problem“ müsse die Pädagogik reagieren. „Paradoxerweise, aber gemäß den Mechanismen der Othering“, so Fava zu einem der Beiträge, „wird bei Migranten vermisst, was tatsächlich (auch) bei Deutschen als Defizit besteht“ (148). Es bleiben also immer die „Anderen“, die etwas nicht leisten. Fava zeichnet nach, wie das Verhältnis zum Nationalsozialismus bei einigen Akteur_innen der Erziehungswissenschaften zum Disziplinierungsmoment wird, andere Antisemitismus als Folge von Einwanderung betrachten und wiederum andere eine „völkisch fundierte nationale Unterscheidung zwischen den Lernenden“ (343) (re)produzieren. Alternativ wird davon ausgegangen, Migrant_innen könnten sich aufgrund der ihnen zugeschriebenen Erfahrungen mit Krieg, Flucht und Rassismus der Mehrheitsgesellschaft besser in die historische Situation einfühlen. Einem in den untersuchten Beispielen häufig auftauchenden Vorschlag zufolge soll Anerkennung bei Migrant_innen an das Lernen über den Nationalsozialismus gekoppelt werden. Gleichzeitig werden Erziehende fast nie als potentielle Migrant_innen gesehen und deshalb aus der Analyse ausgeklammert.

Rosa Fava bringt in ihrer Analyse Diskurse zusammen, die meist bezugsarm oder gar bezugslos nebeneinander stehen: den um eine Erziehung nach Auschwitz bemühten und einen rassismuskritischen, teils postkolonialen Diskurs. Mit großer Präzision arbeitet sie die oftmals kritische Konstellation dieser Diskurse heraus und zeigt Lücken auf. Mit dieser Kritik trägt Fava sicherlich nicht nur zu einer Erkenntniserweiterung, sondern auch zu einer Sensibilisierung der an diesem Diskurs beteiligten Akteur_innen vor allem mit Bezug auf die pädagogische Reflexion der nationalsozialistischen Vergangenheit bei. Durch die starke Fokussierung auf die Kritik an rassistischen Stereotypen entsteht eine Analyse, die dabei helfen kann, eigene Denkmuster und ihren Eingang in die Bildungsarbeit zu hinterfragen. Dabei ist die von Astrid Messerschmidt beschriebene „Problematik der massenhaften Zustimmung und Mitwirkung der Deutschen an der NS-Politik“ (166), die oft verleugnet werde, durchaus bis heute ein gewichtiges Problem in Deutschland. Sowohl das Selbstbild der „deutsch[en] Gesellschaft“ als erfolgreiche „Aufarbeitungsgemeinschaft“ wie auch die formulierte Gefahr, deren Erfolge könnten von als Migrant_innen definierten Menschen in Gefahr gebracht werden, trägt teils paradoxe Züge. So werden nicht nur die Unterschiede zwischen DDR- und BRD-Sozialisation vernachlässigt, sondern auch die vielen unterschiedlichen familiären Hintergründe in Deutschland, die Bezüge zum Nationalsozialismus aufzeigen können. Allein das Leben in einer sogenannten „Aufarbeitungsgemeinschaft“ kann wiederum Bezüge zwischen allen in ihr Lebenden herstellen.

Fava selbst belässt es konsequenter Weise bei einer Analyse des genannten Materials. Die Studie wirft allerdings unweigerlich die weiterhin zu diskutierende Frage auf, wo eine Pädagogik ansetzen sollte, die nicht auf nationalen und völkischen Kategorien aufbauen möchte. Eine Prägung der Lernenden durch diese Kategorien, ihre Internalisierung und auch entsprechende Selbstzuschreibungen bleiben besonders bei einer rassismuskritischen Herangehensweise eklatante Herausforderungen für Pädagog_innen. Sie zu ignorieren, Differenzen also einzugemeinden, wäre in der Auswirkung kaum minder fatal als genannte Zuschreibungen. So wichtig die Anerkennung von Differenzen durch Erziehende ist, so schwierig kann der Verzicht auf Homogenisierungen sein, die die Lernenden eventuell mitbringen und internalisiert haben. Gänzlich vermeiden lässt sie sich vermutlich nie. Will man mit den Lernenden eine gemeinsame Sprache sprechen, die auch oft stark homogenisierende und mitunter rassistische Prägungen abseits der Lehreinrichtungen berücksichtigt, muss zunächst auch mit problematischen Aspekten dieser Prägungen gearbeitet werden. Fava hinterlässt jedoch den Eindruck, jegliche Verallgemeinerungen seien zu vermeiden.

Darüber hinaus besteht in Deutschland bezüglich des Umgangs mit dem Nationalsozialismus eine deutliche Kluft zwischen den untersuchten Beiträgen aus der Erziehungswissenschaft und der pädagogischen Praxis, dem Regierungsauftrag, der staatlichen Erinnerungspolitik und unterschiedlichen Basisgruppen und Initiativen. Von einem mehrheitlich und dominant vertretenen Selbstbild der Auschwitz anerkennenden „Aufarbeitungsgemeinschaft“ ist keinesfalls auszugehen. Einer vor kurzem veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge wollen 58 Prozent der in Deutschland Befragten definitiv den berühmten „Schlussstrich“ ziehen. Auch ist der Verdrängung der Beschäftigung mit dem NS zugunsten derer an die DDR wie auch das Einreihen der Shoah in die „Schrecken der 21. Jahrhunderts“ Rechnung zu tragen. Offen bleibt in Favas Studie die zu Recht Folgeprojekten überlassene Frage, inwieweit familienbiografische Hintergründe überhaupt in NS-Pädagogik einfließen sollten. Sie kommt entgegen ihrer ursprünglichen Erwartungen zu dem Schluss, dass sich durch das Othering im behandelten Diskurs eher die „eigene“ Gruppe selbst definiert als die der „Anderen“. Es handelt sich dabei also um Selbstvergewisserung und Projektion im Angesicht vieler Unsicherheiten. Es ließe sich also schlussfolgern, dass die diskursmächtige Gruppe sich an dieser Stelle vielmehr mit den eigenen Unzulänglichkeiten als mit den vermeintlichen der „Anderen“ beschäftigen sollte. Der beschriebenen Definition einer Herausforderung der Erziehungswissenschaften setzt Fava also konkret eine ganz andere Herausforderung entgegen: Die einer immanent rassismuskritischen Grundlage gerade in der pädagogischen Praxis, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt.

[1] http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/14/0…, zuletzt abgerufen am 17. Juni 2015.

Johannes Spohr (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Spohr: Rezension von: Fava, Rosa: Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft, Eine rassismuskritische Diskursanalyse. Berlin: Metropol 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 4 (Veröffentlicht am 07.08.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386331202.html