Eine »Erfindung« mit Geschichte

Artikel in Analyse & Kritik vom 15. März 2022:

Die Ukraine ist seit jeher ein »multi-ethnischer« Raum, ab dem 19. Jahrhundert mit eigener Nationalbewegung. Vom NS-Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion war sie besonders betroffen

Von Johannes Spohr

Ein Mann mit altertümlicher Militärmütze sitzt an einem Flohmarktstand hinter einem Haufen Figuren, Bücher, Videokassetten
September 2021: Petrivka ist ein Flohmarkt in der Verbova Straße in der Nähe des Zenith-Bahnhofs in Kiew. »Ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint«, schreibt Lisa Bukreyeva. Mehr Bilder von Lisa Bukreyeva auf bukreyeva.com oder auf Instagram: @lisa_kalev

Rund um die derzeitige Invasion Russlands in der Ukraine kursieren eine Vielzahl historischer Bezüge. Der russische Präsident Wladimir Putin offenbarte in seinen letzten öffentlichen Reden ein krudes Geschichtsbild, mit dem er die Missachtung der territorialen Integrität der Ukraine und damit des Völkerrechts propagandistisch untermauerte. Seine teils nicht logisch kombinierbaren und in die Irrationalität abgleitenden ideologischen Versatzstücke deuten darauf hin, dass der Autokrat – wie die Politologin Nikita Chruschtschova meint – dem Traum eines großslawischen Reiches verfallen ist und er sich selbst dabei als »Putin den Großen« betrachtet. Zentral dabei ist gegenwärtig, dass die Staatlichkeit der Ukraine verneint wird: »Die heutige Ukraine wurde voll und ganz und ohne jede Einschränkung von Russland geschaffen, genauer: vom bolschewistischen, kommunistischen Russland«, sagte Putin in seiner Rede vom 21. Februar 2022. Das angeblich von Lenin erfundene Land sei in eine »Kolonie mit einem Marionettenregime« verwandelt worden.

Er widerspricht damit elementar der Wahrnehmung vieler Ukrainer*innen, denen zufolge der koloniale Status der Ukraine mit der Unabhängigkeit von Russland beendet oder zumindest verringert wurde. Dagegen ist Putin der Auffassung, nun zusammenzuführen, was historisch zusammengehöre. Dass er heute mehr denn je die Eigenständigkeit der Ukraine in Frage stellt, also grundsätzlich von einer Zugehörigkeit zu Russland ausgeht, erlaubt es ihm, beim aktuellen Krieg von einem »internen« Konflikt auszugehen. Einige interpretieren sein Handeln als das eines Diktators im Endstadium, der bereits seinen eigenen unweigerlichen Tod vor Augen habe. Doch knüpft er mit dem Aberkennen der Staatlichkeit der Ukraine an eine lange Tradition an.

Die Ukraine kann als seit jeher »multi-ethnischer« beziehungsweise »poly-ethnischer« Raum verstanden werden, in dem unterschiedliche Sprachen und Religionen beheimatet sind. Etymologisch gelesen bedeutet Ukraine »Am Rand« oder »Grenzland«. Einzelne Gebiete und Regionen des heutigen Staatsterritoriums der Ukraine waren in ihrer Geschichte Bestandteil von mindestens 14 verschiedenen Staaten, darunter das Königreich Polen-Litauen, das Russische Reich, die Habsburgermonarchie und die Sowjetunion.

Etymologisch bedeutet Ukraine »Am Rand« oder »Grenzland«. Einzelne Gebiete des heutigen Staatsterritoriums waren in ihrer Geschichte Bestandteil von mindestens 14 verschiedenen Staaten.

Als Vorläufer der heutigen Staaten Russland (Russische Föderation), Belarus (Republik Belarus) und Ukraine wird die Kiewer Rus angesehen. Dieses altostslawische Großreich hatte seine Blütezeit im Frühmittelalter um das Jahr 1000, zerfiel im Anschluss in diverse Territorialherrschaften und ging unter, als im Jahr 1240 die Mongolen in Kyjiw die Macht an sich rissen. Das Fürstentum Kyjiw bildete das politische und kulturelle Zentrum der Kiewer Rus. Es ist bis heute Teil der Gründungsmythen Russlands wie auch der Ukraine. Die Fürsten von Moskau revitalisierten anschließend die Rus und machten Moskau zu ihrem Machtzentrum.

Während ukrainische Territorien später zunächst unter litauische, dann litauisch-polnische und anschließend polnische Herrschaft fielen, wurden sie im Laufe des 18. Jahrhunderts sukzessive zum Teil des russischen Kaiserreiches (auch Russisches Zarenreich), während andere Teile dem Habsburgerreich zufielen. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1796 machte die Zarin Katharina die Große Russland zu einer »Großmacht an der Schwelle zur Moderne« (Vitali Taichrib).

Im 19. Jahrhundert bildete sich wie in anderen Teilen Europas dann eine Nationalbewegung heraus, deren Ziele eine ukrainische Nation sowie die Pflege ukrainischer Sprache und Kultur waren. Diese Bewegung richtete sich auch gegen die forcierte Russifizierung im Zarenreich, die auf der Vorstellung basierte, das russische Volk sei in Großrussen (Moskau), Kleinrussen (Ukraine) und Belarussen (Weißrussland) einzuteilen.

Zwischen Ukrainischer Volksrepublik und USSR

Dem Ersten Weltkrieg und den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen im Russischen Kaiserreich, die 1917 in der Oktoberrevolution kulminierten, folgte der Russische Bürgerkrieg, der auch in der Ukraine erbittert zwischen diversen Parteien wie der zaristischen Weißen Armee und den Bolschewiki, ab 1918 der Roten Armee geführt wurde. In diesem Zusammenhang entstand 1917 ein erster ukrainischer Nationalstaat, die sozialrevolutionäre und marxistisch geprägte Ukraïns’ka Narodna Respublika (UNR) oder auch Ukrainische Volksrepublik. Ihr politisches Entscheidungsorgan wurde die Central’na Rada (Zentralversammlung). Bis heute ist die Ukrainische Volksrepublik ein wichtiger Bezugspunkt national-ukrainischer Narrative.

Nachdem sie Anfang 1918 von den Bolschewiki aus Kyjiw vertrieben worden war, rief die UNR die Mittelmächte (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und Osmanisches Reich) um Hilfe an. Deutsche und österreichische Truppen marschierten daraufhin in Kyjiw sowie der gesamten Ukraine ein. Als Gegenleistung erwarteten die deutsche und die österreichische Führung Lebensmittellieferungen. Dies wurde am 9. Februar 1918 in einem Vertrag zwischen den Mittelmächten und der Ukrainischen Volksrepublik in Brest-Litovsk festgehalten. Dieser Separatfrieden wird auch »Brotfrieden« genannt. Das deutsche Interesse lag hierbei vor allem in der wirtschaftlichen Ausbeutung der Ukraine, der sogenannten »Kornkammer Europas«. Mit dem Umfang der Lebensmittellieferungen zeigten sich Deutschland und Österreich-Ungarn jedoch bald unzufrieden.

Schwarzweißaufnahme einer Lenin-Statue, im Hintergrund ein Pferd
Aus der Reihe »Where I was born«. Kiew, Januar 2021. Foto: Lisa Bukreyeva

Am 29. April 1918 setzte die deutsche Besatzungsmacht in Kyjiw den früheren zaristischen General Pavlo Skoropads’kyj (Het’man) an die Spitze einer Marionettenregierung. Dieser konnte so den ersten ukrainischen Staat von Don bis Bug begründen, ein sogenanntes Het’manat, das bald im Konflikt mit der von Zwangsabgaben aufgebrachten bäuerlichen Bevölkerung stand. Als die Heere der Mittelmächte schließlich aufgrund ihrer allgemeinen Schwächung aus der Ukraine abzogen, schaffte es die durch innere Widersprüche gekennzeichnete UNR nicht, sich eigenständig durchzusetzen. Während des andauernden Bürgerkrieges wurden in der Ukraine Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung verübt, für die unter anderen der militärische Oberbefehlshaber und ab 1919 Regierungschef Symon Petljura verantwortlich waren.

Bis 1921 nahm die Rote Armee das gesamte Territorium ein, das zwischen 1922 bis 1939 die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR) bilden sollte. Aus dieser Zeit stammt ein positiver und teils bis heute wirkmächtiger Bezug auf die Deutschen als Unterstützer ukrainischer Staatlichkeit. Am 7. Mai 1921 wurde eine Exilregierung der UNR gegründet, die 71 Jahre lang, bis zum 22. August 1992, Bestand und ihren Sitz ab 1948 offiziell in Bayern hatte. Die Erinnerung an sie könnte unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse eine neue Relevanz erhalten.

Im Dezember 1922 wurde die USSR mit ihren 30 Millionen Einwohner*innen dann Teil der neu gegründeten UdSSR. Für sie folgte die sowjetische Erfahrung zwischen Terror und Traum (Karl Schlögel). Ebenso wie Repressierte, Ermordete und Geächtete gab es eine neue Elite sowie Befürworter*innen, Unterstützer*innen und Nutznießer*innen des sowjetischen Projektes. Charkiv entwickelte sich beispielsweise in den 1920er Jahren mit seiner konstruktivistischen Architektur – ein kulturelles Erbe, das nun droht, den russischen Bomben zum Opfer zu fallen – zur Stadt der sowjetischen Moderne, während es im Frühjahr 1933 besonders von der durch das stalinistische Regime verursachten Hungersnot betroffen war. Anhänger*innen ukrainischer Staatlichkeit und Identität konnten von der Periode offizieller Ukrainisierung in den 1920er Jahren kurzzeitig profitieren, mit der auch die Verbreitung und das Ansehen der ukrainischen Sprache signifikant anwuchsen. Es ist diese auf realpolitischen Umständen und Kräfteverhältnissen beruhende, durch Lenin beeinflusste Nationalitätenpolitik, auf die sich Putin in seiner Rede vom 21. Februar 2022 bezog und die gewisse Freiheiten für nichtrussische Volksgruppen mit sich brachte. Es folgten jedoch bald Festnahmen, Haft, Exekution oder Exil. Zu den prägenden Erfahrungen, die die Menschen in der Ukrainischen SSR machten, gehörten neben der staatlich evozierten Hungersnot 1932/33 die stalinistischen Zwangskollektivierungen und der Große Terror 1936/37.

Weltkrieg, Shoah und Kollaboration

Ein weiterer zentraler historischer Bezugspunkt eint Russland und die Ukraine: der Zweite Weltkrieg, in sowjetischer Variante der »Große Vaterländische Krieg«. Seit den Umbrüchen in der Ukraine, die unter dem Stichwort »Majdan« 2013/14 in die Geschichte eingegangen sind, befindet sich die Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg in der Ukraine im Umbruch, da er wie viele gesellschaftliche Bereiche »dekommunisiert« werden soll. Ohne einen zentralen Bezug darauf ist jedoch allein deshalb kein nationales Narrativ in der Ukraine denkbar, weil es in nahezu jeder Familie Opfer gab.

Die Ukraine war wie Belarus schon aufgrund ihrer geografischen Lage besonders stark vom NS-Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion ab dem 22. Juni 1941 betroffen. Etwa 1,6 der einst 2,7 Millionen Jüdinnen und Juden wurden dort während der Shoah ermordet. Weit über eine Million von ihnen wurden zwischen 1941 und 1944 unter deutschem Befehl vor Ort erschossen – das sind 80 Prozent der Ermordeten, wohingegen 20 Prozent in die Vernichtungslager in Ostpolen deportiert wurden. Auch Roma*nja wurden als Gruppe gezielt verfolgt und ermordet. Zwischen sechs und sieben Millionen Menschen aus der Ukraine kämpften während des Zweiten Weltkrieges in der Roten Armee. Wer von ihnen in deutsche Gefangenschaft geriet, war extrem gefährdet: Etwa drei von bis zu 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen überlebten die deutsche Gefangenschaft nicht. Unter den etwa drei Millionen zivilen Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion (»Ostarbeiter«) waren über die Hälfte Ukrainer*innen und besonders viele Frauen.

Eine besonders kompromisslose brutale Haltung gegenüber Ukrainer*innen hatte – anders als andere Nationalsozialisten mit taktischer orientierten Herrschaftsmodellen – der Reichskommissar Erich Koch, oberste Gewalt im sogenannten Reichskommissariat Ukraine, der in einem Vermerk von 1942 zitiert wird: »Es gibt keine freie Ukraine. Das Ziel unserer Arbeit muß sein, daß die Ukrainer für Deutschland arbeiten und nicht, daß wir das Volk hier beglücken. Die Ukraine hat das zu liefern, was Deutschland fehlt. Diese Aufgabe muß ohne Rücksicht auf Verluste durchgeführt werden.«

Anpassung und Widerstand waren für viele Einwohner*innen der Ukraine indes niemals eindeutige und dichotome Alternativen. So organisierten sich Menschen aus der Ukraine in lokalen wie übergeordneten sowjetischen Partisanenformationen ebenso wie sich Einwohner*innen auf verschiedene Weisen in den Dienst der deutschen Besatzer stellten – etwa als Hilfspolizisten, als »Hilfswillige« der Wehrmacht oder in der lokalen Verwaltung. Während die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem bis zum 1. Januar 2021 2673 Menschen aus der Ukraine als »Gerechte unter den Völkern«, die also nachweislich Jüdinnen und Juden halfen zu überleben, auszeichnete, beteiligten sich Ukrainer*innen ebenso an der Verfolgung und Ermordung ihrer jüdischen Nachbar*innen. Zu einer Reizfigur im Zusammenhang der Kollaboration ist der zeitweilige Kopf der ukrainisch-nationalistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), Stepan Bandera, geworden, der in Teilen der heutigen Ukraine als Nationalheld gilt, obwohl er nachweislich Massaker an Jüdinnen und Juden sowie Pol*innen zu verantworten hatte. Weniger bekannt ist die Melnyk-Fraktion der ukrainischen Nationalisten (OUN-M), die anders als die Bandera-Fraktion (OUN-B) häufig lokal und kontinuierlich mit der deutschen Verwaltung und Polizei zusammenarbeitete. In der Ukraine blieben die Loyalitäten der dort ansässigen Akteure stets fragil, ihre Allianzen brüchig. Dies bedeutete etwa, dass einzelne Personen – teils mehrfach – die Seiten wechselten.

Die brutale und mörderische NS-Besatzungsherrschaft fand ihren Abschluss auf dem Boden der Ukraine mit einem Kalkül der »verbrannten Erde«. Vor und während des Rückzugs der Wehrmacht wurden – häufig im Zusammenhang mit einer vorgeblichen Bekämpfung von Partisan*innen – massenhaft Dörfer niedergebrannt und ihre Einwohner*innen massakriert, Lebensmittel und Vieh geraubt, Industriebetriebe demontiert und zerstört und so die Lebensgrundlagen zerstört.

Erhebliche Auswirkungen hatten in der späten Kriegsphase zudem die Massaker der OUN und ihres militärischen Arms, der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), an polnischen Zivilist*innen in den ehemaligen polnischen Ostgebieten (Wolhynien und Ostgalizien), bei denen nahezu 100.000 Pol*innen ermordet wurden. 1947 wurden dann im Rahmen der »Aktion Weichsel« etwa 150.000 Ukrainer*innen und weitere Gruppen aus den nun zu Polen gehörenden Gebieten ausgesiedelt. Die UPA sollte noch bis 1954 kämpfen, als sie von sowjetischen Truppen und dem sowjetischen Geheimdienst zerschlagen wurde.

Die Ukraine der Nachkriegszeit war in vielerlei Hinsicht kaum vergleichbar mit dem Land, das sie bis 1939, noch weniger bis 1941 gewesen ist. Dem massiven Leid und den allgegenwärtigen Zerstörungen, mit denen die Menschen in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik nach Ende des Krieges umgehen mussten, standen territoriale Gewinne gegenüber. Der Staat, aus dem später einmal die unabhängige Ukraine hervorgehen sollte, war nun größer als je zuvor und als Folge der stalinistischen Expansionspolitik, die sich im Hitler-Stalin-Pakt niedergeschlagen hatte, fast vollständig »vereint«. Teile der heutigen Westukraine, die bis dahin zu Polen gehört hatten, wurden im Zuge des Paktes der UdSSR beziehungsweise der Ukrainischen SSR einverleibt. Die Landwirtschaft lag nach dem Krieg am Boden, es mangelte an Lebensmitteln, Kleidung, Schuhen und Gegenständen des täglichen Bedarfs wie Zündhölzern. Etwa 25 Millionen Menschen waren bei Kriegsende obdachlos. In der Ukraine betraf dies 40 Prozent der Bevölkerung. Die Rekonstruktion der Städte war auch in den 1950er Jahren noch nicht abgeschlossen.

Der Mittelpunkt Europas

Am 22. August 1992 übergab der letzte Präsident der Exilregierung, Mykola Plawjuk, die Insignien der Volksrepublik Ukraine an Leonid Kravtschuk, den neuen Staatspräsidenten der Ukraine. Die Ukraine wurde so zum Nachfolger der einstigen Volksrepublik Ukraine.

Heute ist die Ukraine das größte Land des östlichen Mitteleuropas. 1887 wurde von den Habsburgern eine Stelle unweit des Dorfes Rachiv in der heutigen Westukraine als geografischer Mittelpunkt Europas definiert. Innerhalb weniger Tage haben nun viele gelernt, dass die Ukraine ein Land ist, in das man in einem Rutsch mit dem Auto fahren kann, das also nur in den Köpfen »weit weg« ist; die Menschen sollten die Ortsnamen eigentlich wegen der deutschen Verbrechen dort kennen. Nun lernen sie sie kennen, weil dort ein neuer Krieg tobt.

Überdeckt werden in der gegenwärtigen Situation innerukrainische politische und kulturelle Konflikte, die bis zum Krieg kontrovers diskutiert wurden und nun von einer selten da gewesenen Einigkeit überschrieben werden. 2019 verlor die russische Sprache in einigen Regionen den Status einer zweiten Amtssprache und sollte durch das neue Sprachengesetz zunehmend aus dem offiziell-öffentlichen Leben gedrängt werden, was vielfach kritisiert wurde. Auch die ungarisch- und rumänischsprachigen Minderheiten gerieten zunehmend in Schwierigkeiten.

Die hier skizzierten Gegebenheiten geben auch einen Hinweis auf Chancen, die anarchistische Ansätze und Interpretationen in der Ukraine bieten. Anarchistische Gruppierungen – marginal an der Zahl – waren an einigen Orten an den »Majdan«-Protesten 2013/14 (auch: »Revolution der Würde«) beteiligt, im ostukrainischen Charkiv etwa waren sie besonders präsent und konnten ihre Expertise der Selbstorganisation einbringen. Während des aktuellen Krieges haben sich einige Anarchist*innen den »Territorialen Verteidigungsstreitkräften« angeschlossen, Aufmerksamkeit erhielt in den Sozialen Medien zudem ein internationales bewaffnetes »anti-autoritäres Widerstandskomitee«. Die Negation von Nationalstaatlichkeit und völkischer beziehungsweise ethnischer Konzepte erscheint als eine passende Antwort auf den Versuch, die Ukraine lediglich über die Zugehörigkeit zu Russland beziehungsweise die Unterordnung unter die »Großrussen« zu definieren; oder aber die Diversität der ukrainischen Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart zu negieren, wie es Rechte in der Ukraine tun. Dies bietet die Möglichkeit, weder den zunehmend völkisch aufgeladenen Großmachtfantasien Putins noch einer ethnisch-homogenisierenden Geschichtsschreibung der Ukraine, die suggeriert, einzig das »ukrainische Volk« bevölkere die Ukraine, noch dem Mythos einer tausendjährigen staatlichen Tradition anheim zu fallen.

Johannes Spohr ist Historiker und betreibt den Recherchedienst present past zum Nationalsozialismus in Familie und Gesellschaft (present-past.net). Er promovierte zur Ukraine in der Zeit des Rückzugs der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, sein Buch »Die Ukraine 1943/44. Loyalitäten und Gewalt im Kontext der Kriegswende« erschien im Metropol-Verlag.