Ausnahmezustand Alltag

Vier Tage im August 2011: „Battle all over London“. Aus der Sicht von Fernsehkameras und Polizeihubschraubern: Staatliche Einrichtungen, Polizeiwachen, Autos und Häuser brennen, Shoppingcenter werden zerstört und geplündert, Barrikaden und Strassensperren errichtet, fünf Menschen sterben – es herrscht Ausnahmezustand, nachdem ein junger Mann von Polizeibeamten erschossen wurde. Aber täuschte die mediale Empörung über „sinnlose, verabscheuungswürdige Gewalt“, „einfache Kriminalität“ und „habgierige Plünderungen“ nicht nur darüber hinweg, dass der eigentliche Ausnahmezustand ein längst normalisiertes, gewaltvolles Verhältnis zwischen Menschen und Staat ist?

Moritz Altenried hat mit Aufstände, Rassismus und die Krise des Kapitalismus eine kurze, sehr einprägsame Analyse der Aufstände, die im August 2011 für vier Tage in London wüteten, vorgelegt. Der Zweite Band der Reihe Systemfehler der Edition Assemblage ist ein knapp 70-seitiger essayistischer Ausflug in die Zusammenhänge von struktureller Unterdrückung und Gewalt, von Nicht-Anerkennung und der daraus entstehenden „Krise der Repräsentation“. Diese charakterisieren die sozial-politischen Verhältnisse Großbritanniens – und zwar nicht erst seit 2011. Altenried, der als Politik- und Kulturwissenschaftler in London lebt, rekonstruiert mithilfe namhafter Theoretiker_innen wie Antonio Gramsci, Georgio Agamben und Michel Foucault normalisierte Zustände von rassistischen und klassistischen Ausschlußstrategien. Darüberhinaus extrahiert er greifbar das politische Moment einer ganzen Reihe von Riots, die in den vergangenen Jahrzehnten in britischen Städten und vor allem London stattgefunden haben. Neben den bekannter Gewordenen in Brixton 1981 und 1985 gab es seit den 1960er Jahren auch in Tottenham immer wieder Unruhen. Fast immer stand und steht am Anfang polizeiliche Machtausübung gegenüber Menschen mit schwarzer Hautfarbe, vor allem bei den berüchtigten stop-and-search-Aktionen, die  vergleichbar sind mit den „verdachtsunabhängigen Kontrollen“ in Deutschland – im Grunde ein Musterbeispiel ständig wiederkehrender rassistischer Polizeigewalt.

Altenrieds Chronologie und ihre Einordnung ist sehr hilfreich vor dem Hintergrund, dass die massenhaften Reaktionen auf die Erschiessung von Marc Duggan am 4. August 2011 durch Polizeibeamt_innen medial und politisch mit einer heftigen Kriminalisierungs-Kampagne überzogen, faktisch delegetimiert und schießlich zum brutalen staatlichen Rückschlag (Operation Fightback) freigegeben worden waren. Das Resultat waren eine gezielte De-Politisierung der london- und schließlich landesweit ausbrechenden Kämpfe und Plünderungen, die erst dann explosionartig einsetzten, als am 6. August 2011 klar wurde, dass mit Marc Duggan ein weiterer unaufgeklärter Todesfall der bislang 333 Menschen umfassenden Liste hinzugefügt werden wird, die seit 1989 in britischem Polizeigewahrsam umgekommen sind. Dieser zeitliche Fakt ist genauso wichtig, wie die, im machtvollen Getöse der Repression weitestgehend ungehörte, nachträglich hinterhergeschobene Information polizeilicher Ermittlungen, dass aus Marc Duggan’s Pistole niemals ein Schuss gefallen war – was angeblich der Grund für seine Erschiessung war.

Die Umkehrung der Tatsache, dass sich eine Bevölkerungsgruppe gegen die ihr strukturell widerfahrene Gewalt zur Wehr setzt, hin zu dem Bild vom Staat, der gnadenlos gegen ein ausser Rand und Band geratenes „Gesindel“ durchgreifen muss, liess sich die britische Regierung unter der Ägide David Cameron’s dann einiges an Aufwand kosten: Nachdem den Aufständischen am vierten Tag der Riots mit massivem Polizeiaufgebot begegnet wurde, folgten anschließend massive Verhaftungen. Mehr als 4.000 Schnellverfahren mit drakonischen Strafen wurden als Zeichen staatlicher Härte durchgesetzt. Als kollektive Bestrafung wurden Familien von als Plünderer_innen Verhafteten aus ihren Sozialwohnungen hinausgeworfen. Die mediale Begleitmusik dazu tönte: „Fegt den Abschaum von unseren Strassen!“. Dabei kam es zu interessanten Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Communities von Einwanderer_innen – unter anderem der „black community“ und der „british(!)-asian community“. Hier, so Altenried zeige sich auch, wie flexibel und reversibel die Mechanismen „postliberaler Rassismen“ seien – je nachdem, welche Gegnerschaft oder Fremdheit gerade konstituiert und konstruiert werden muss. Selbst der anti-muslimische Rassismus, der nach dem 11. September und den Anschlägen in der Londoner U-Bahn den Diskurs bestimmte, geriet ins Hintertreffen, als angesichts von weißen Jugendlichen, die an den Aufständen beteiligt waren, das rassistische Argument neu gewendet wurde: „The whites have become black“, verkündete der Historiker David Starkey in einer BBC-Sendung und meinte damit wohl so etwas wie: Schwarzsein ist ansteckend. Klar, und „Das Böse ist unter uns.“

Die Aufstände in London im vergangenen August waren ein politisches Ereignis, sagt Moritz Altenried. Auch ohne ein erkennbares kollektives politisches Projekt zu benennen, beziehen sich viele Aussagen von an Krawallen und Plünderungen Beteiligten nachweislich auf den unerträglichen Zustand eines perspektivlosen und gewalttätigen Alltags von Hunderttausenden in London und anderen englischen Städten.

Im Umkehrschluss: Die Verweigerung der Lösung von sozialen Fragen mit politischen Mitteln führt zu Auflehnung – nicht zwangsläufig, aber doch immer wieder. Dass die Linke in diesem Diskurs nur sehr selten interveniert und in den vergangenen Jahren fast nie irgendeine Rolle spielte, verschweigt der Autor nicht. Indem er der linken Politik lediglich eine „Krise“ attestiert, was deren Überwindung gewissermaßen voraussetzt, macht Altenried allerdings auch klar, dass er an dieser Stelle nicht für die fehlende Perspektive zuständig ist. Statt diese mitunter ins Irrelevante abdriftende (und zuweilen auf verdrehte Art konservativ argumentierende) Bewegung (in Großbritannien) weiter zu kommentieren, macht er sich auf die Suche nach dem Politischen, dass sich auch ohne Slogan, Zeichen und Ikonisierung verständigt. Er findet die kraftvolle Bewegung des Sozialen, die, unabhängig von politischer Parteilichkeit, ihren Ausdruck sucht.

geschrieben für drift