Abgetaucht im Herzen der Bestie

geschrieben für beatpunk

Der Verlag Antje Kunstmann hat 20 Jahre nach dem Erscheinen des englischen Originals die deutsche Übersetzung von »Homicide – A year on the killing streets« von David Simon herausgebracht. Die Reportage über Simons Erlebnisse in der Mordkommission der US-amerikanischen Stadt Baltimore aus dem Jahr 1991 gilt als DNA der TV-Serie »The Wire«. Vor fast 10 Jahren startete in den USA die auf »Homicide« zurückgehende TV-Serie, die ebenfalls von Simon verfasst wurde, mit explosionsartigem Erfolg. Sie ereichte in kürzester Zeit Kultstatus – seit 2008 auch in der deutschen Fassung. Begrüssenswert, dass nun auch die Quelle der Fernsehadaption erhältlich ist. Trotz des feinen Händchens des kleinen Publikumsverlags Kunstmann für besondere Bücher wird es die Übersetzung hoffentlich nicht genauso schwer haben wie damals das Original – zwar wurde »The Wire« mit Preisen überhäuft und immer wieder als »beste Serie« gelobt, »Homicide« als Buch musste hingegen mit sehr verhaltenen Publikumsreaktionen vorlieb nehmen. In der Kategorie »erzählendes Sachbuch« sei das nicht unüblich, schrieb der Verfasser selbst angesichts der englischsprachigen Neuauflage im Jahr 2006. Dieser wiederum dürfte der TV-Erfolg durchaus zugute gekommen sein.

Als ehemaliger Polizeireporter hatte David Simon beschlossen, sich an einer anderen, dichteren Form der Reportage zu versuchen. Ein Jahr lang verbrachte er fast ausschließlich mit den Fällen und Beamten des Morddezernats von Baltimore, erfasste alles, was er an Eindrücken zu Papier zu bringen vermochte. Herausgekommen ist ein über 800-seitiger Bericht. »Ein Jahr auf mörderischen Strassen« liess Norman Mailer, den großen, mittlerweile verstorbenen Mann des US-amerikanischen »New Journalism« vom »besten Buch, dass je ein amerikanischer Autor über die Ermittler einer Mordkommission geschrieben hat«, sprechen. Nicht, dass es davon unzählige gäbe – aber das Kompliment trägt der Tatsache Rechnung, dass es dank Simons Durchhaltevermögen und seiner begnadeten Erzählweise gelingt, Konzentration zu erzeugen, ohne ins Krimi-Klischee abzudriften: Weder wird mit dem Ende, noch mit der Moral von der Geschichte begonnen, die Suche nach der Motivation von Kinder‑ oder Polizistenmord erlebt man nicht »hautnah«, sondern in Simons solider journalistischen Schilderung der Beamten, ihrer Arbeitsweise, ihrer Reaktionen und ihrer Gefühle.

Simon befand sich mit seiner Idee einer einjährigen Selbsterfahrungsdokumentation im Morddezernat von Baltimore in einer sonderbaren Rolle: Für einen gewöhnlichen Reporter ist er irgendwie zu lange dabei – und doch wird kein echter Cop aus ihm. Aber es ist zu spüren, dass er nicht wenige Male versucht ist, mit anzupacken, dass es ihn wurmt, den Aufenthaltsort des Kindermörders im Fall Latonya Wallace nicht ausfindig machen oder nicht den entscheidenden Tip im Fall des Mörders in den Reihen der Beamten geben zu können, an dem sich die Ermittler untereinander aufreiben. Simon überträgt die Weisheiten der Detectives mitunter in seine Einschätzungen: »Wenn in Baltimore ein Cop fragt, was man gesehen hat, ist die Standardantwort ein Kopfschütteln und ein abgewendeter Blick. Das ist ein in der Stadtbevölkerung seit Generationen eingebrannter Reflex.« In der Rückschau sagt er von sich, er sei in dem Jahr in der Monroe Street »abgetaucht«, ein Endzwanziger, der sich mit neu gekauften Hosen wie ein »Polizeipraktikant« gefühlt habe. Er hat, was auch immer man davon halten mag, damit das Genre des Polizeireporters neu bestimmt.

»Alles was in diesem Buch geschildert wird, ist wirklich geschehen.«
Fans der Fernsehserie werden sich den papiernen Backstein eher der Vollständigkeit halber ins Regal stellen wollen. Eingefleischte Krimifans könnten vom »True Crime«-Label abgeschreckt werden, verspricht doch die Realität weniger Thrill als die, in endloser Abfolge quasi im Minutentakt auf den Markt geworfenen, phantastischen Werke einschlägiger skandinavischer Autoren. Aber es lohnt sich unbedingt, der Lektüre von Simons akribischer journalistischer Arbeit einige Tage zu widmen. Denn was »Homicide« im Vergleich zu den unerschöpflichen Fiktions-Reservoirs besonders und noch dazu besonders interessant macht, ist zum Beispiel die Endlichkeit seiner Protagonisten. Deren persönliche Entwicklungen, ihre psychischen Einbrüche – Burnouts, Depressionen – und auch die eine oder andere charakterliche Metamorphose angesichts von Erfolg und Misserfolg kann nur das Leben schreiben.

Simon begleitet die 25 Männer quasi rund um die Uhr, er erlebt in diesem Jahr, wie sie versuchen, 243 Mordfälle aufzuklären, er lernt die Spezial-Sprache des kriminologischen Mikrokosmos‘ – und der Leser lernt mit. Zum Beispiel die Kategorien von Fällen zu unterscheiden, mit denen sich die zwei Dutzend Typen zwischen etwa 30 und 50 Jahren, herumplagen müssen: Ein »Red Ball« bedeutet absolute Priorität, ein »Dunker« löst sich quasi von allein. Und ein »Whudunit«? Richtig, die Frage deutet es an: Es kann auch schon mal etwas länger dauern. Manche Fälle bleiben bis zum Ende des Buches und auch bis zur Neuauflage 2006 ungelöst. Das Simon darauf verweist, macht die Verstrickung des Journalisten nicht nur mit seinem Gegenstand deutlich, sondern auch mit seinen Protagonisten – im übrigen durchweg männliche: Frauen werden zum Zeitpunkt des Entstehens von »Homicide« zwar schon seit zehn Jahren an der Polizeiakademie ausgebildet, laufen aber bei unterzähliger Besetzung unter der Bezeichnung »Sekretärinnen mit Schusswaffen«.

Simons nüchterner Realismus erlaubt es, diesen Cops sowohl in ihren Wertesystemen, als auch in ihren persönlichen Falldramen, die sie in ihren Elefantenherzen mit sich herumtragen, unweigerlich näher zu kommen – so nahe, dass man meint, die Kaffeeflecken auf ihren knittrigen Hemden sehen zu können. Aber man darf auch dabei sein, wenn sie sich mit debilem Grinsen bei dem einen oder anderem sexistischen Joke entspannen. Wenn Simon sagt, er wolle den US-amerikanischen Detective entmystifizieren und aus ihm mehr die Person machen, die er vielfach vorgefunden hat – gewöhnt an Gewalt und keinesfalls so nobel im Charakter, wie sie bis dahin in der Schublade »Vorbild« geführt wurden – dann hat er damit nicht allen von ihnen einen Gefallen getan. Gänzlich frei von Ambivalenzen kann Simon aber nach dieser Feldforschung nicht sein und ehrlicherweise gibt er auch nicht vor, an der Idee einer hundertprozentig unbestechlichen journalistischen Objektivität festhalten zu wollen.

Das wird an den Stellen deutlich, wo sich das Gewicht auf die Position seiner Akteure verlagert und die Gründe von Armut, Beschaffungskriminalität oder grundlegendem Mißtrauen gegenüber Polizeibeamten unter den Tisch fallen. Ein Jahr nach Erscheinen von »Homicide« gaben die Riots in Los Angeles angesichts der Gewalttaten weißer Polizeibeamter gegen Rodney King Antworten auf Fragen, die Simon leider nicht stellt.

Stattdessen kann Terence Mc Larney, ständiger Einsatzleiter der Monroe Street, im Jahr 2006 in der Neuauflage Folgendes beschreiben: »Unsere Arbeit hat sich in den letzten 15 Jahren verändert. Die Auswirkung der Darstellung der Ermittlungsarbeit in Krimis und Serien auf das öffentliche Bild von der Polizeiarbeit hat die Erwartung von Geschworenen und Richtern in unzumutbare Höhen getrieben und ist zum Fluch der Staatsanwälte geworden. Die Einschüchterung von Zeugen hat zugenommen und die Kooperationsbereitschaft der Bürger ist zurückgegangen.« Die Konsequenzen, wenn das Maß an Autorität von Polizeiarbeit nicht mehr stimmt und sie, durchaus in manchen Fällen zu unrecht, zunehmend erschwert wird – können laut McLarney nur sein: mehr präventive Maßnahmen wie DNA-Analyse und Law and Order Politics bzw. Aufklärungscluster wie die CSI (Crime Scene Investigation). Spätestens dieser Realitätseinbruch am Ende des Buches macht die aufmerksame Leserin den Kopf kratzen.

»Glückliche, zufriedene Menschen starten normalerweise keine Riots. (…) In den Vierteln, in denen die Unruhen ausbrachen, können wir eine anhaltende Armut und ein autoritäres Agieren der Polizei beobachten.«, sagte Mark Fisher, britischer Autor, im Interview mit der Jungle World, nachdem die Unruhen im August diesen Jahres in Großbritannien von Polizei und Staatsanwaltschaft repressiv beendet bzw. geahndet wurden und werden. Über die Ursachen von Alternativ‑ und Perspektivlosigkeit, den damit verbundenen Lebensumständen, aber auch den Versuchen, Veränderungen anzuregen oder soziale Verantwortlichkeiten zu fordern – über die andere Seite der Medaille also – verliert David Simon nicht viele Worte. In dem Sinne ist er wohl Polizeireporter geblieben.

David Simon: Homicide. Ein Jahr auf mörderischen Strassen, übersetzt von Gabriele Gockel, Barbara Steckhan, Thomas Wollermann, Verlag Antje Kunstmann, 24,90 Euro