Artikel im Neuen Deutschland vom 30.1.2014:
»Die Menschen werden sein, und man wird sie nicht vergessen, denn: Die Bücher werden sein.«
Die lettische Jüdin und ehemalige Rotarmistin Eva Vater lebt heute in Tel Aviv. Im Kino Krokodil ist jetzt ein Film zu sehen, der sie porträtiert
Von Johannes Spohr
»Nu, was willst du gern wissen?«, fragt mich Eva Vater, die mir in ihrer bescheiden eingerichteten Wohnung im Zentrum Tel Avivs bei Kaffee und Keksen gegenübersitzt. Die heute 91-Jährige wurde 1922 in Riga geboren. Im Juni 1941 wurde sie mit einem der letzten Transporte der Roten Armee für junge Kommunist_innen aus der von den Deutschen besetzten Stadt evakuiert. Ihre zurückgebliebenen Eltern, Angehörige der jüdischen Minderheit in Lettland, wurden im Winter 1941 von den Nazis ermordet. Eva ließ sich zur selben Zeit in einem sowjetischen Armee-Ausbildungslager zur Krankenschwester schulen und kämpfte anschließend bis zum Ende des Krieges gegen die deutsche Wehrmacht. Ihr Bruder Juri fiel als Rotarmist an der Front auf dem Gebiet der heutigen Ukraine.
Bereitwillig berichtet Eva Vater mir aus ihrem bewegten Leben. Sie wirkt dabei strukturiert, zielstrebig – und vor allem herzlich. Es ist ihre lebendige und oft bildhafte Art zu erzählen, die mich unweigerlich zuhören und in ihre Geschichte eintauchen lässt. Das, was sich seit dem Krieg durch ihr Leben zieht und darin zur vielleicht größten Konstante geworden ist, so erzählt sie mir heute – ist das Schreiben. »Drei Jahre lang war ich Sanitäterin in verschiedenen Bataillonen«, erinnert sie sich, »und schon dort habe ich angefangen, für die Zeitung der Kompanie zu schreiben.«
Nach dem Krieg kehrte Eva Vater nach Lettland zurück. Sie entschloss sich, Ärztin zu werden, und ging an die Universität. Auch dort habe sie wieder geschrieben, »über die Leute aus der Armee, wie sie den Krieg erlebt haben, wer verwundet, wer krank war und so weiter«. Sie wurde Gynäkologin, eine 40 Jahre währende Lebensaufgabe. Daneben schrieb sie bis zu ihrem Renteneintritt 1992 bereits zwei Autobiografien.
Ihr Sohn Juri, geboren 1955, hatte ein Jahr zuvor beschlossen, nach Is- rael auszuwandern: »Er fragte mich, ob ich mitkomme. Aber ich wollte und konnte nicht, ich war doch nicht vorbereitet!« Ebenso wenig habe sie trotz des herannahenden Ruhestands »still sitzen« können. Frisch pensioniert ging sie also zum Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Riga und fragte ihn: »Was soll ich machen, ich bin ohne Arbeit?« Sie erhielt einen Auftrag: Herauszufinden, welche Letten, baltische Deutsche oder Belarussen im Krieg geholfen haben, Juden zu retten. Sieben Listen habe sie schließlich schriftlich festgehalten und veröffentlicht: »Ich dachte, das müssen alle wissen, Riga muss es wissen.«
Ihre nächste Aufgabe habe dann darin bestanden, jüdische Ärzte, Mediziner, Pharmazeuten, Krankenschwestern und Sanitäter aus Lettland ausfindig zu machen. Mit Erfolg: Hunderte Namen umfasste ihre Enzyklopädie, die sie mit einer von einer Freundin ausgeliehenen Schreibmaschine aufschrieb. Für eine Veröffentlichung fehlte das Geld, bis der Direktor des medizinischen Institutes schließlich eine Zusage für eine finanzielle Unterstützung gab. Erst nach Abschluss dieses Buches fuhr Eva Vater 1997 nach Israel – und blieb.
Im angrenzenden Raum sucht sie ihre Arbeiten aus Regalen und Schränken heraus und gibt sie mir nacheinander in die Hand. An vielen Stellen fallen Überklebungen auf. Es musste bereits einiges verbessert werden und noch immer ergänzt Eva Vater Lücken, auf die sie stößt und gestoßen wird. Für die Veröffentlichung einer Broschüre über etwa 5000 jüdische Kämpferinnen in der Roten Armee hat sie 15 000 Shekel von ihrer Rente ausgelegt. Viele der 1000 Exemplare hat sie verschenkt oder an Gedenkorte und Museen verschickt, andere direkt verkauft und dabei zumindest einen Teil des Geldes nach und nach zurück bekommen. Auch über jüdische Ärzte hat sie recherchiert, zudem schreibt sie Gedichte.
Und ihr Sohn Juri? Er lebt heute in den USA. Zu Menschen aus Lettland pflegt sie Kontakt, »zu denjenigen, die meine Freunde sind.« Es werden jedes Jahr weniger, die noch leben.
Das Schreiben hat sie mit ihrem Umzug keineswegs aufgegeben. Momentan arbeitet sie an einem Buch über jüdische Professoren in Lettland, 400 Namen hat sie bereits recherchiert. Jetzt müsse man die Fehler überprüfen und bis März sei das Buch fertig. »Wer es haben will, der wird es kaufen«, kommentiert Eva Vater gelassen die zu erwartende kleine Auflage.
Dabei steht sie neben einem Plakat für den Film »CECTPA« (»Schwester«), in dem ihr Leben jüngst porträtiert wurde. »CECTPA« wird in den kommenden Monaten in einigen kleineren Kinos in Deutschland zu sehen sein – so jetzt auch im Berliner Kino Krokodil. Es handelt sich um eine der wenigen aufwendigen Würdigungen, die das Schaffen Eva Vaters erfahren hat – als eine zwischen den Stühlen aneckende Kämpferin und Chronistin.