Rote Fahne vor Odessa

Artikel in der Analyse & Kritik vom 16.6.2015. Zur PDF-Version geht es hier.

Vor 110 Jahren meuterte die Besatzung des Panzerkreuzers Potemkin – ein zentrales Ereignis der Revolution von 1905

von Johannes Spohr

Die Hafenstadt Odessa ist ohne ihre Mythen kaum denkbar. Zu ihnen gehören das Gangster- und Gaunerleben der 1920er Jahre und die dazugehörigen Chansons von Leonid Utjossow, die Partisanenaktivitäten in den Katakomben Odessas im Zweiten Weltkrieg, die sprachlichen Eigenarten der von Vielfalt und Migration geprägten Stadt oder auch die Revolution von 1905 – und die im gleichen Atemzug zu nennende Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin, ein Mythos, der maßgeblich durch den gleichnamigen Stummfilm gewachsen ist. 1925 beschloss die Jubiläumskommission der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, dass der 20. Jahrestag der Revolution feierlich begangen werden sollte. Höhepunkt sollte die Aufführung eines Films sein. Der mit der Erstellung beauftragte Regisseur Sergei Eisenstein schuf daraufhin nicht nur einen Meilenstein der Filmtechnik und -geschichte, sondern auch einen fundamentalen Beitrag zum sowjetischen Geschichtsnarrativ über das Revolutionsjahr 1905. Die tatsächliche Rekonstruktion der Ereignisse trat hinter die gewünschte Wirkung des Revolutionsfilms und die dafür notwendige Erzählstruktur zurück. Einzelakteure werden zu typologischen Schablonen und bleiben bis auf einen Märtyrer der Meuterei, Wakulintschuk, namenlos. »Die Erhebung auf dem ›Panzerkreuzer Potemkin‹«, so interpretiert der Historiker Andreas Zellhuber den Film, »weitet sich in konzentrischen Kreisen aus, wird so zur Revolution gegen das zaristische Regime und verweist auf die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte«.

Zur Revolte ermutigt

Ausgelaufen war das Schiff am 25. Juni 1905 mit rund 670 Soldaten und Matrosen, 18 Offizieren und dem Kommandanten Golikow aus dem Hafen Sewastopol. Unumstritten ist bis heute die wichtige Rolle, die Maden auf dem Schiff spielten – Maden im Fleisch, das der Besatzung als Verpflegung dienen sollte. Die Mannschaft protestierte, woraufhin ein Offizier mit Erschießungen drohte. Es entstand ein Kampf, an dessen Ende das Schiff in die Hand der Meuterer geriet. Sieben Offiziere und der Kapitän wurden dabei getötet. Die Meuterer hatten lediglich ein Opfer zu beklagen: Wakulintschuk. Dem Kampf folgte das Einsetzen einer neuen Schiffsordnung, eines 25-köpfigen Matrosenrates und einer neuen Schiffsführung.

In dem Moment, in dem die Potemkin mit gehisster roter Fahne vor Odessa auftauchte, fand dort ein Generalstreik statt, der von erbitterten Auseinandersetzungen mit der Polizei begleitet war. Russland stand im Jahr 1905 unter dem Eindruck der Kriegsniederlage gegen Japan, im ganzen Land erhoben sich revolutionäre Bewegungen, es kam zu Massenstreiks und blutiger Repression. Die wegen der Ankunft der Potemkin zusammenströmende Arbeiterschaft fühlte sich ermutigt, wurde jedoch von 100 Kosaken niedergeschossen, auf der Richelieu-Treppe, den wohl bekanntesten Stufen der Filmgeschichte. Etwa 500 Menschenleben soll dieses Massaker gekostet haben. Teile des Hafens und angrenzende Lager wurden infolgedessen von der wütenden Menge in Brand gesteckt. Am nächsten Morgen waren etwa 2.000 Menschen durch das Feuer und Polizeikugeln gestorben.

»Die Geschehnisse des Jahres 1905«, so Andreas Zellhuber, »führten zu keinem revolutionären Umsturz des zaristischen Ancien Régime. Die ›Potemkin‹ flüchtete sich – wenig heroisch – in neutrale Gewässer, die landesweiten Erhebungen und Streiks wurden gewaltsam niedergeschlagen oder brachen von selbst zusammen.« Das Scheitern der Erhebungen machten sich Eisenstein und die sowjetische Führung bewusst zu eigen: Leninistischer Revolutionstheorie folgend, kann die revolutionäre Masse nur unter der Führung geschulter Parteikader Erfolg haben. Ohne eine Lenkung durch die Partei kann sie – spontan agierend – nur scheitern.

Pogrom: „ein russisches Wort“

Historiker_innen aus Odessa haben 2008 bei einer wissenschaftlichen Umfrage etwa 400 Menschen auf den Straßen der Stadt gefragt, was sie über 1905 wissen. »Im Ergebnis sehr wenig«, sagt mir Wladimir Poltorak, einer der beteiligten Wissenschaftler. Eine einzige Geschichte habe er zu hören bekommen. Diese kursierte in der Familie eines Befragten: Der Großvater habe sich während des antijüdischen Pogroms mit einem jüdischen Kind gegenseitig mit Steinen beworfen.

Im jüdischen Museum weiß man heu- te durchaus über die Pogrome zu erzählen, die den Aufständen folgten. Aufgrund der Erfahrung mit früheren Pogromen im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts habe man jüdische Selbstverteidigungseinheiten gebildet. Es sei wichtig, Juden und Jüdinnen aus heutiger Perspektive nicht nur als Opfer, sondern als aktiv Handelnde zu sehen und zu zeigen, so der Leiter des Museums. Und selbstverständlich hatten viele Juden und Jüdinnen sich aktiv revolutionär engagiert. Nach den Aufständen sei die Masse schließlich kanalisiert und gegen den »inneren Feind« aufgehetzt worden. Die Rhetorik habe sich jedoch nicht nur explizit gegen Jüd_innen, sondern auch allgemein gegen Student_innen und die sogenannte Intelligenzija gerichtet: »Und Pogrom ist übrigens im Ursprung ein russisches Wort«, gibt man mir zum Abschied mit.

Das Scheitern der Revolution ist also mit der Niederschlagung der Arbeiterschaft nach der Ankunft der Potemkin nicht beendet. Es zieht sich fort mit dem Tod von etwa 400 Jüd_innen während der Pogrome im Oktober 1905. So komplex deren Ursachen sind, so klar ist auch, dass vor allem ungelernte Tagelöhner_innen und Dockarbeiter_innen ihren Anteil daran hatten. Der Wunsch, in der Situation des Aufstandes entwickle sie die Solidarität zwischen den Arbeitenden, wird demnach überschattet von Regression und ihren tödlichen Konsequenzen. Spaltungen entlang ethnischer Kategorien scheinen auch in Odessa für die Wut auf die Verhältnisse attraktiv gewesen zu sein und als Fokus das russisch-zaristische Regime abgelöst zu haben. Gleichwohl ist die Lage auch in dieser Phase komplex. So soll es durch- aus viele und nicht nur explizit jüdische Selbstschutzgruppen gegeben haben, die sich für die Angegriffenen einsetzten. Dennoch wurde die Konfrontation mit den knechtenden Verhältnissen zugunsten der Konstruktion eines Gegensatzes »Arbeiter – Juden« ersetzt. Die Betroffenheit von diesen Verhältnissen führt dem- nach nicht zwangsläufig zu einer Haltung, die geeignet wäre, sie aufzulösen, sondern immer wieder auch zum Pogrom. Wobei anzumerken ist, dass für diese maßgeblich Gruppen verantwortlich waren, die dem anti-revolutionär eingestellten Lager zuzurechnen sind.

Linke, die auf 2017 schielen

Dem sowjetischen Narrativ setzen heutige ukrainische Historiker_innen vereinzelt neue Ansätze entgegen. Sie beschäftigen sich eingehender mit den beteiligten Gruppen, den einzelnen Akteur_innen und ihren unterschiedlichen Motiven und Perspektiven. Wladimir Poltorak betont, es hätten sich vor allem Menschewiki, der Allgemeine jüdische Arbeiterbund (BUND) und anarchistische Gruppen en- gagiert. Diese Vielfalt habe das sowjetische Narrativ ausgeblendet. Dem allgemeinen Trend in der Ukraine folgend, betont er die Beteiligung von Ukrainer_innen – vor allem auf der Potemkin. Nicht nur revolutionäre Fragen hätten für sie eine Rolle gespielt, sondern auch das Verhältnis zur russischen Vorherrschaft.

Warum aber tut die bereits auf 2017 schielende Linke gut daran, ein wenig bei 1905 zu verweilen? Kann die Geschichte des Scheiterns anders gefüllt werden als im leninistischen Sinne? Wie richteten sich die sozialistischen und kommunistischen Gruppen anschließend aus, und wie viel Scheitern, das in den folgenden Jahrzehnten folgte, ist daran bereits in Ansätzen angelegt? Was für Rückschlüsse können aus den Vorgängen gezogen werden? Wie viel Individuum braucht eine linke Geschichtsschreibung, wie viel Masse? Scheitern beinhaltet immer Chancen – von daher wäre der Linken eine Beschäftigung mit diesen Fragen zu wünschen.

 

Johannes Spohr schrieb in ak 605 über das Plädoyer von Rosa Fava für eine rassismuskritische Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft.