„Hauptsache nicht zu Russland“

Reportage in der Jungle World vom 18. Juni 2015:

Die Ukraine befindet sich am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Bereits jetzt können viele Menschen, insbesondere auf dem Land, ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten, unabhängig davon, ob sie Arbeit haben oder nicht. Eine Reportage über die soziale Lage am Rande des Kampfgebiets.

von Johannes Spohr

Am 20. Mai 2015 wurde ein Mann in Odessa vor dem zentralen Markt Priwos von einer Spezial­einheit der Miliz überwältigt und verhaftet. Eine Bombenattrappe und eine Luftpistole wurden ­sichergestellt. Der Festgenommene hatte vorher in einer Apotheke zwei Geiseln genommen. Gerüchten zufolge war seine Motivation, Geld für seine krebskranke Mutter zu erbeuten.

Abseits der Frage, ob Gerücht und Wahrheit in diesem Fall übereinstimmen, verwundern derartige Taten angesichts der sozialen und ökonomischen Lage in der Ukraine kaum noch.

Die konkreten Probleme der Menschen in den umkämpften Gebieten sind teilweise dramatisch. Ein Jahr nach Beginn des militärischen Konflikts in der Ostukraine ist eine Änderung der politischen und militärischen Entwicklung nicht absehbar. Das hat Folgen für die Wirtschaft. Die Landeswährung Hrywnja hat einen erheblichen Wertverlust erfahren, vor allem der Wechselkurs zu Dollar und Euro ist seit Monaten extrem schlecht. Der bewaffnete Konflikt im Osten des Landes sorgt darüber hinaus dafür, dass Einnahmen aus den Industriegebieten des Donezkbeckens ausbleiben. Viele Fabriken haben die Produktion ohnehin ganz oder teilweise eingestellt. Auch der Einbruch beim Handel mit Russland macht der Wirtschaft zu schaffen. Die im Mai beschlossenen weiteren Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) zögern die Staatspleite hinaus. Dass sie abwendbar ist, wird immer unwahrscheinlicher. Gleichzeitig wird der Druck auf die ukrainische Regierung stärker, an die Kredite gekoppelte Reformen konsequent durchzusetzen. Dazu gehören die Kürzung der Renten, die Entlassung staatlicher Angestellter, die Reform – vor allem die Privatisierung – des Bildungs- und Gesundheitssystem, die Abschaffung der Subven­tionen für Gas und die Privatisierung mehrerer staatlicher Unternehmen.

Hat auch schon bessere Zeiten gesehen: ehemaliger Club in Odessa

Hat auch schon bessere Zeiten gesehen: ehemaliger Club in Odessa (Foto: Johannes Spohr)

 

Die ukrainische Regierung handelt in einigen Bereichen längst: Die Energiepreise wurden drastisch angehoben, ebenso die Preise für Teile des öffentlichen Nahverkehrs. In wenigen Monaten wurde der Preis für den Marschrutka-Kleinbus in Odessa von 2,50 Hrywnja auf fünf Hrywnja erhöht. »Die Leute gewöhnen sich viel zu schnell daran«, sagt Sergey*. Ähnlich sei es mit dem Dollarkurs: »Als der Dollar 15 Hrywnja kostete, waren die Leute geschockt. Nun finden sie es schon normal, wenn er 21 kostet, weil es zwischenzeitlich auch schon über 25 waren.« Sergey ist Anarchist und bemüht sich mit einigen Linken in Odessa, gegen die Zustände Protest zu organisieren. Wir sitzen auf einer der schattigen Bänke im Schewschenko-Park, nahe der Strandpromenade. Kaffee, Kwass und Bier trinkend flanieren viele entspannt wirkende Sonntagsausflügler hier über die breiten Wege. Der Strand ist wie immer belebt, nur die Tische in den Lokalen füllen sich nicht so recht. Sergey wundert sich über die bislang relativ unaufgeregte Stimmung in der Stadt, die er auch in seinem Freundeskreis beobachtet. »Gegen die Fahrpreiserhöhungen protestierten etwa 50 Menschen«, erzählt er. Angesichts der teilweise dramatischen Probleme kann er das nicht verstehen. »Noch vor einem Jahr haben die Massen in Kiew eine Regierung gestürzt, jetzt scheinen sie nicht bereit zu sein, sich für soziale Belange einzusetzen und zu protestieren«, stellt er fest. »Manche bekommen monatelang keinen Lohn ausgezahlt. Aber protestieren tun sie deshalb nicht, weil es immer noch schlimmer kommen könnte.« Den wenigen Mitgliedern linker Gruppen in der Stadt fehlen geeignete Bündnispartner und Interventionsmöglichkeiten. »Vor ­allem Versuche, sich abseits von nationalen Zugehörigkeiten und Polarisierungen zu verorten, finden kein Gehör«, sagt Sergey.



Wer Arbeit hat, muss drastische Lohnsenkungen hinnehmen. Am Tag der offenen Tür des Museums für Regionale Geschichte zeigt mir Vitali* seinen Arbeitsplatz. Vitali hat hat ein abgeschlos­senes Geschichtsstudium und verbringt zweieinhalb Tage in der Woche hier. Vor dem Währungsverfall erhielt er für seine archivarischen Tätigkeiten umgerechnet knapp 100 Euro monatlich, im vergangenen Monat waren es nur noch 59. Um auf den alten Bruttolohn zu kommen, müsste er eine volle Stelle annehmen, mit der aber auch die Steuerabgaben anstiegen. Damit läge er nur wenig unter dem Gehalt für Lehrerinnen und Lehrer: 3 000 Hrywnja (etwa 125 Euro). Um über die Runden zu kommen, arbeitet Vitali ­nebenher als freier Journalist für verschiedene Nachrichtenportale. An das Anmieten, geschweige denn den Kauf einer eigenen Wohnung ist in ­einer solchen Situation nicht zu denken, und so wird das Zusammenleben in der Familie für ihn und viele andere, auch in der Stadt, wieder zur Normalsituation.

Life as usual. Strand in Odessa

Life as usual. Strand in Odessa (Foto: Johannes Spohr)



Etwa auf halbem Weg zwischen dem Museum und dem Priwos-Markt, auf der hektischen und belebten Preobraschenskaja-Straße, verkauft Harrache Belaid aus einer kleinen Bude heraus Falafel-Sandwiches. Heute reicht er wartenden Kunden eine Unterschriftenliste. Die Stadtverwaltung habe beschlossen, seine Bude müsse weg. »Warum? Keine Ahnung. Es passt ihnen wohl nicht mehr ins Bild«, sagt Belaid. »Dabei gibt es sie schon seit 20 Jahren!« Was er machen würde, wenn er tatsächlich wegziehen müsse, weiß er nicht. »Das geht einfach nicht«, sagt er lapidar. Seit dem Währungsverfall ist die Situation für ihn schwierig geworden. »Aber auch, wenn ich jeden Tag sehr lange arbeiten muss, ohne die Bude kann ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen. Sie ist schließlich weltweit bekannt«, sagt Belaid mit einem stolzen Lächeln. Eine Kundin führt das Gespräch beim Warten fort. Die Frage nach einer Krankenversicherung bringt sie zum Lachen: »Unsere Versicherung ist umsonst«, spottet sie, »aber dafür bekommen wir nichts.« Offiziell ist die medizinische Grundversorgung in der Ukraine tatsächlich kostenfrei. Allerdings sind die staat­lichen Einrichtungen so schlecht ausgestattet, dass sich ein System der Korruption entwickelt hat. So muss bei jedem Arztbesuch dann doch gezahlt werden. Wie viele andere Ukrainerinnen und Ukrainer sieht auch Belaids Kundin die Korruption als das größte Problem des Landes. »Vor allem in Odessa ist das so«, sagt sie. Der kürzlich vom Präsidenten eingesetzte neue Gouverneur von Odessa und ehemalige georgische Präsident, Michail Saakaschwili, soll es nun richten. Dass ausgerechnet ein in seinem Herkunftsland wegen Amtsmissbrauch gesuchter Politiker geeignet sein soll, davon sind bei weitem nicht alle überzeugt. Allerdings sehen viele in seiner Einsetzung eine gewisse Logik, da er weder mit den lokalen Machtstrukturen verbunden ist, noch einem der rivalisierenden politischen Lager in der Ukraine angehört.

Dicht am Kampfgeschehen und fest in ukrainischer Hand: die ostukrainische Stadt Dnipropetrowsk

Dicht am Kampfgeschehen und fest in ukrainischer Hand: die ostukrainische Stadt Dnipropetrowsk (Foto: Johannes Spohr)



Für viele Menschen, die häufig auf die staatliche Gesundheitsversorgung angewiesen sind, stellt sich die Frage der Finanzierung der Arztbesuche jedes Mal aufs Neue. Anastasia Barwinskaja* lebt in Limanske, etwa anderthalb Busstunden entfernt von Odessa. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war Limanske ein deutsches Dorf, nun ist es eine Siedlung mit kleinstädtischem Charakter. Anastasia hat ihr Leben lang in verschiedenen Berufen gearbeitet. Derzeit bekommt die 75jährige eine Rente von 1 200 Hrywnja, etwa 50 Euro, und liegt damit im guten Durchschnitt der Bezüge. Obwohl sie ein eigenes Haus hat, reicht das gerade zum Überleben aus: »Nun, ich gehe zum Geschäft und kaufe ein Brot, ein paar Gurken und Butter. Ein Stück Wurst willst du ja auch essen – schon sind 100 Hrywnja weg, und es reicht nicht mal für zwei Tage.« Ihre zwei Kinder helfen ihr immer wieder, wenn sie zum Arzt müsse. »Ich bin sehr glücklich, dass ich sie habe, anders ginge es ja auch gar nicht«, sagt sie. Die Funktionsweise des Systems beschreibt sie so: »Wer zum Arzt will, muss eben irgendwie zahlen, wenn du kein Geld hast, leg dich hin und stirb.« Genau so passiere es immer wieder, die Leute stürben einfach.

In kleineren Dörfern ist das Leben häufig entspannter, aber gleichzeitig perspektivlos für jüngere Menschen. Wer kann, geht in die Stadt, studiert oder sucht nach Arbeit. Jobs im eigenen Dorf gibt es nur noch in den wenigsten Fällen, Ausbildungsmöglichkeiten sind rar. Verlassene ehemalige Kolchosen stehen sinnbildlich für den Wandel. Im besten Falle werden sie umgerüstet und weiter wirtschaftlich genutzt. Nach wie vor nimmt der Anbau von Obst und Gemüse einen wichtigen Stellenwert ein – vor allem für den Eigenbedarf. Radieschen, Kohl, Karotten und Kartoffeln werden gezogen und Tiere gehalten. So können sich viele auch in Zeiten wirtschaftlicher Misere über Wasser halten.

Die wahrnehmbarste Veränderung in vielen Dörfern ist – vor allem nördlich der Region Bessarabien – das Wehen blau-gelber Fahnen. In und um die Stadt Winnyzja scheint es gar, als werde für jeden toten ukrainischen Soldaten ein neuer Zaun in den Nationalfarben bemalt. Freude über eine EU-Annäherung ist kaum spürbar, die politische Perspektivlosigkeit dagegen präsent. »Hauptsache nicht zu Russland« ist für viele der Hauptwunsch. Die Millionenstadt Dnipropetrovsk gehört derzeit zu den Städten, die zwar relativ dicht am Kampfgeschehen in der Ostukraine liegen, jedoch fest in der Hand der ukrainischen Regierung zu sein scheinen. Auf den Straßen im Zentrum der Stadt geht es ähnlich lässig, belebt und konsumorientiert zu wie in Odessa. Doch auf dem Karl-Marx-Boulevard gibt es nicht nur Cafés und Boutiquen, sondern seit einiger Zeit auch eine der Aufnahmestellen für Binnenflüchtlinge – Internally Displaced Persons, IDP – aus den umkämpften Gebieten, vor allem aus Donezk und Luhansk. Schätzungen zufolge leben inzwischen 100 000 vor den Kriegshandlungen Geflüchtete in Dnipropetrovsk. Zwei von ihnen sitzen auf der Treppe der unter anderem vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR betriebenen Einrichtung und beschäftigen sich mit einem Stapel Papier. Galina hilft einem Neuankömmling beim Ausfüllen des umfangreichen Antrages für den Status als IDP. Die komplizierte Situation macht sie wütend: »Die Bürokratie verhindert eine effiziente Hilfe. Es ist wirklich katastrophal.« Immer mehr Leute kommen dazu, die wegen der vielen Fragen verzweifeln. Wer von ihnen anerkannt wird, bekommt für einen Monat 400 Hrywnja Unterstützung und ein provisorisches Dach über dem Kopf. Manchmal sind es alte Heime für Kinder oder ältere Menschen, auch ein großes Containerdorf gibt es in einer Vorstadt. Gedacht sind die Einrichtungen als Übergangslösung, doch viele bleiben auf Dauer. Eine Wohnung zu mieten oder zu kaufen, ist für die meisten viel zu teuer. Nicht immer seien Eigentümer den Flüchtlingen gegenüber aufgeschlossen, sagt einer der Dazugekommenen. Das Stereotyp, alle Menschen aus dem Osten des Landes würden die Separatisten unterstützen, hält sich offenbar hart­näckig. Manche IDPs bekommen zudem einen Schein ausgestellt, mit dem sie berechtigt sind, für eine Weile mietfrei zu wohnen. Auch das ist bei Vermietern sehr unbeliebt.

Falafel und Schauma bei Harrache Belaid

Falafel und Schauma bei Harrache Belaid (Foto: Johannes Spohr)



Ljuba* arbeitet in einem von internationalen Organisationen geförderten Projekt, das Kinder von Flüchtlingen unterstützt. An fünf Tagen in der Woche können sie in eine »kinderfreundliche Umgebung« kommen, wo Unterhaltung, Spiele, Maltherapie und neuerdings auch Sandtherapie angeboten werden. Zukünftig sollten auch mo­bile Projektgruppen gebildet werden, die beispielsweise in das große Containerdorf fahren. »Dort haben die Kinder überhaupt nichts, um sich zu beschäftigen. Das Dorf liegt in einer großen Plattenbausiedlung, in der sie nur mit den Steinen spielen können, auf denen die Container stehen«, sagt Ljuba. Der Zugang ist nicht besonders einfach: »Die Leute sind schon genervt davon, dass immer wieder ein paar gut gekleidete Menschen kommen, Fotos machen, und dann wieder nichts passiert.« Landesweit gibt es bislang etwa eine Million IDPs; falls der militärische Konflikt sich weiter zuspitzt, könnten die Spannungen in der Bevölkerung zunehmen. Ljuba erzählt davon, dass sich die Kinder in den Schulklassen mittlerweile gegenseitig als »Separ« (Separatist) und »Ukrop« (wörtlich »Dill«, gemeint sind damit die Unterstützer der ukrainischen Regierung) bezeichneten und unterteilten. Auch sie ist zu Beginn der Kampf­handlungen aus Luhansk geflohen und könnte somit einen Antrag auf den Status des IDP stellen. Allerdings war ihr der zu kompliziert, und irgendwie fände sie es auch diskriminierend. Das Geld bräuchte sie ohnehin nicht. »Es sollen lieber die nehmen, die es wirklich brauchen«, sagt sie. So lange sie in Luhansk gemeldet ist, kann sie nur hoffen, dass ihr gesundheitlich nichts zustößt. Denn der Versorgungsanspruch richtet sich nach dem offiziellen Wohnort und dürfte im Krankeitsfall in Dnipropetrovsk noch teurer werden.

Angesichts der Lebensrealität in vielen Teilen der Ukraine erscheinen die Sparaufforderungen des IWF grotesk und perfide. Bereits jetzt ist für viele Ukrainerinnen und Ukrainer unmöglich, von ihren Gehältern und Renten zu leben. Auf die Frage, wie es ihnen trotzdem gelingt, findet auch hier niemand so recht eine Antwort, bis auf »irgendwie«.

* Namen von der Redaktion geändert.