Artikel in der Jungle World vom 13. September 2012.
Damit hatte nun wirklich niemand gerechnet, und sie selbst wohl am allerwenigsten: Pauline Marois, die Vorsitzende der Parti Québécois (PQ), die aus den Parlamentswahlen in der kanadischen Provinz Québec am Dienstag vergangener Woche als eindeutige Siegerin hervorging, hielt gerade ihre Siegesrede, als Schüsse fielen. Der »Befreiungskampf light« der linksliberalen separatistischen Partei wurde mit einer überraschend drastischen Version des bisher eher moderaten »Québec-Bashing« konfrontiert. Ein bislang namentlich nicht bekannter Mann erschoss einen Veranstaltungstechniker, der noch vor Ort starb, und verletzte einen weiteren Mann schwer. Anschließend versuchte der in Shorts und Bademantel gekleidete Attentäter, das Gebäude, in dem die Siegesfeier stattfand, anzuzünden. Später bei seiner Festnahme soll er in gebrochenem Französisch »Die Engländer wachen auf« gerufen haben. Marois wurde in Sicherheit gebracht, kehrte jedoch auf die Bühne zurück und beendete ihre Rede.
Die Politikerin ist seit den frühen achtziger Jahren in der PQ aktiv, die sich für die Unabhängigkeit Québecs einsetzt und bisher vor allem bei der Stärkung der französischen Sprache Erfolge erzielte. Seit 2007 ist die 63jährige Marois Vorsitzende der PQ und nun die erste Frau in der Geschichte Québecs, die das Amt der Ministerpräsidentin bekleidet. Sie ist entschlossen, Québec in die Unabhängigkeit zu führen, und symbolisiert eine selbstbewusste Rückkehr der PQ an die Regierung nach sieben Jahren in der Opposition. Zu ihrem Sieg dürfte nicht zuletzt das Engagement des populärsten Studentenaktivisten der vergangenen Monate, Léo Bureau-Blouin, im Wahlkampf beigetragen haben.
Es ist noch unklar, ob der Attentäter auf der Siegesfeier aus Protest gegen die Unabhängigkeitspolitik der PQ handelte. Vielleicht rastete er einfach aus, weil ihn am selben Tag ein Brief der Regierungsbehörden erreicht hatte, die ihm die Genehmigung für das Eisangeln nicht ohne weitere Naturkunde erteilen wollte. Von der Formierung einer antiseparatistischen Befreiungsarmee wird bisher jedenfalls nicht ausgegangen. Auch Marois, der die Schüsse durchaus gegolten haben könnten, scheint die Fehde nicht anzunehmen und gibt sich Mühe, den englischsprachigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Sicherheit zu vermitteln. Die Gesellschaft Québecs sei nicht gewalttätig. Die Dinge sind nach wie vor eben »light« in Kanada. Separieren wollen sich auch nur knapp ein Drittel der Einwohner Québecs.